Die
hehre Kunst der Provokation:
Der erste Schuß von Pearl Harbor
Von Stefan T. Possony
(28. Juni
1967, Hoover Institution on War, Revolution and Peace, Stanford, Cal., USA)
»Wenn wir in Deutschland einen Krieg mit der vollen Wirkung
unserer Nationalkraft führen wollen, so muß es ein Volkskrieg sein, es muß ein
Krieg sein, der mit dem Enthusiasmus geführt wird, wie der von 1870, wo wir
ruchlos angegriffen wurden.« (Bismarck)
»Eines Tages kann die
eine Seite sagen: Das kann nicht so weitergehen. Sie kann auch sagen: Halt,
wenn wir länger warten, dann geht es uns schlecht, dann sind wir der Schwächere
statt der Stärkere. Dann kommt die Katastrophe.« (Bebel) »Über das Verhalten des sozialdemokratischen
Parteivorstands am 20. Juli 1932 sind harte Urteile gefällt worden. Viele sind
der Meinung, wir hätten das Signal zum Losschlagen geben müssen. Vielleicht ...
sind sie im Recht. Aber wer darüber leichthin urteilt, der möge versuchen,
sich in die Lage eines Menschen zu versetzen, der mit fünfzehn anderen zu
entscheiden hat, ob es einen Bürgerkrieg geben soll oder nicht. Später einmal
sagte ein Freund zu mir: ,Ihr seid schlechte Generale. Ihr könnt nicht andere
in den Tod schicken.' Gerade das war es!« (Stampfer)[179]
Ich bitte den Leser, die obigen Motti genau zu lesen und sich in die geschichtlichen
Lagen zurückzuversetzen, auf welche sich diese Worte beziehen. Den Ereignissen
von Pearl Harbor hatte ich anfänglich nur ein paar Worte gewidmet, und es wurde
mir von Freunden angeraten, diese zu streichen, da meine Ausführungen
einerseits amerikanische und proamerikanische Leser verletzen könnten, andererseits
»Antiamerikanern« Gelegenheit gegeben würde, aus dem Zusammenhang gerissene
Feststellungen zu Hetzzwecken zu verwenden.
Nun, ich entschloß mich, die Angelegenheit ausführlich zu
beschreiben. Der Grund hierfür ist einfach. Ein Buch, das die strategischen Zwangshandlungen
(und zum Teil Missetaten) Deutschlands, Rußlands, Österreich-Ungarns und andeutungsweise
Frankreichs behandelt, muß sich der Vollständigkeit und Balance wegen auch um
England oder die Vereinigten Staaten kümmern. Da mir die Geschichte von Pearl
Harbor vertrauter ist als etwaige britische Fälle von provokativer Strategie,
habe ich Pearl Harbor gewählt, um so mehr, als die Dokumentation von Pearl
Harbor sehr reichhaltig ist und es daher erlaubt, die Anatomie der provokativen
Strategie darzulegen.
Zum zweiten kann man über Probleme wie Kriegsschuld keine
Bücher schreiben, wenn man sich vor ärgerlichen Lesern und vor Zitatenkünstlern
fürchtet. Die Aufgabe des Wissenschaftlers ist es, die Wahrheit nach bestem
Wissen und Gewissen darzulegen. Mein Buch soll der Völkerverständigung dienen
- gerade deshalb darf man sich nicht scheuen, den Tatsachen ins Auge zu
blicken. Daß Pearl Harbor - besser gesagt: eine historisch zutreffende Darstellung
dieses Ereignisses - in den Vereinigten Staaten noch ein Tabu ist, trifft zu,
aber dies ist kein Grund, warum man die Amerikaner schonen soll, wenn man, vielleicht
sogar mit amerikanischer Zustimmung, den Deutschen und den Russen die Wahrheit
sagen darf.
Die in Deutschland weitverbreitete Ansicht, man dürfe über
einen Verbündeten nie etwas Schlechtes sagen, wird in Amerika, wo man
Redefreiheit und politische Debatte ernst nimmt, keineswegs geteilt. Abgesehen
davon kehrt die faktische Darstellung von Pearl Harbor meines Erachtens
hauptsächlich das strategische Geschick Roosevelts hervor, das er 1941
unter Beweis stellte, und enthält daher keine Kritik an Washington -
ganz im Gegensatz zu meinen Darlegungen über Nürnberg. Anhänger der
Demokratischen Partei verschweigen die wahre Geschichte von Pearl Harbor aus
ebenso falschen Gründen, wie viele Republikaner einige Einzelheiten dieser
Geschichte breittreten wollen. Ich bin Amerikaner und proamerikanisch und bin
der kindlichen Unreife, mit der man sowohl in den USA wie in Europa die
amerikanische Geschichte oft behandelt, reichlich satt. Wenn Legenden schädlich
sind, dann sind auch amerikanische Legenden zu zerstören.
Was die Gefahr der Mißdeutung zum Zwecke der
antiamerikanischen Propaganda angeht, so mögen die Herren im Glashaus nur ihre
Steine werfen. Dies erscheint mir für die internationale Sicherheit viel
weniger bedrohlich als eine weiterhin falsche Deutung des wahren Wesens der
amerikanischen Demokratie. Dieses wahre Wesen ist nicht in der
amerikanischen Rhetorik zu suchen, sondern im politischen Pragmatismus: letzten
Endes werden trotz aller Bekenntnisse zum Frieden dennoch die Schritte
unternommen, welche die nationale Sicherheit und das Nationalinteresse sowohl
der Vereinigten Staaten wie auch seiner Verbündeten gebieten.
Die Kunst der provokatorischen Strategie wurde in Amerika
nicht erst 1941 erfunden, sie war bereits 1846 zur Auslösung des Krieges mit
Mexiko verwendet worden. Auch der amerikanische Sezessionskrieg begann, als die
Südstaaten den ersten Schuß abfeuerten, eine reichlich unkluge Handlung, in
welche die Nordstaaten sie hineinmanövrierten. Die Explosion des
Schlachtschiffes »Maine« im Hafen von Havana 1898 wurde oft als Provokation
hingestellt, durch die der Krieg mit Spanien ausgelöst wurde. Die Anwesenheit
des Schiffes in Kuba diente provokatorischen Zwecken, aber die Explosion war,
wie heute genau verbürgt ein Unglücksfall; es handelte sich um Zündung in einer
Munitionskammer. Wie kam es zu Pearl Harbor?
Mitte 1941 kontrollierten die Achsenmächte fast den gesamten
europäischen Kontinent und einen Teil von Nordafrika. Die deutsche Wehrmacht
drang immer tiefer in die Sowjetunion ein, aber Großbritannien war unbesiegt.
Japan das mit dem Dritten Reich und Italien durch einen Bündnisvertrag, dessen
genaue Bedeutung damals nicht ganz klar lag, verbunden war, führte seinen langjährigen
Krieg gegen China fort und besetzte Indochina, das dem von Deutschland
besiegten Frankreich gehörte. Offenkundig planten die Japaner weitere Expansionen,
aber es war nicht sicher, ob diese gegen die englischen und holländischen Besitzungen
in Asien, gegen die Vereinigten Staaten, gegen Sibirien, nur gegen den einen
oder anderen Staat, gegen mehrere oder gegen alle dieser Staaten gerichtet
werden würden.
Trotz aller Erfolge des Achsenbündnisses stand es keineswegs
fest, daß dieses siegen würde, aber ein Sieg Großbritanniens und der
Sowjetunion erschien noch unwahrscheinlicher: jedenfalls war dieser Sieg nur
schwer zu erringen[180].
Außerdem war vorauszusehen, daß, falls die Sowjetunion und Großbritannien nicht
bald entscheidend geschlagen würden, der Krieg sehr lange dauern und auf die
Wirtschaft aller Länder die nachteiligsten Folgen ausüben mußte. Schließlich
war es denkbar, daß Großbritannien allein besiegt und die Sowjetunion abermals
ein Bündnis mit Nazi-Deutschland eingehen würde oder die Diktaturmächte sich
entschließen könnten, gemeinsam das Britische Empire in Europa und Asien,
vielleicht auch in Afrika zu zerschlagen.
Vom amerikanischen Interesse aus gesehen waren folgende
Möglichkeiten durchaus untragbar:
1. daß die Nazis ihre Macht auf dem europäischen Kontinent festigen; 2. daß
Japan zusätzliche Machterweiterungen in Asien erringt und China wirksam
besiegt; 3. daß Großbritannien entscheidend geschwächt oder besiegt wird und
vielleicht unter Nazi-Einfluß gerät. Die Niederlage der Sowjetunion wäre aus
verschiedenen Gründen mit dem amerikanischen Interesse nicht unvereinbar
gewesen, aber eine solche Niederlage wäre mit einem deutschen Sieg identisch
gewesen und hätte der deutschen Kriegsmacht zu einer ungeheuren Vergrößerung
ihres wirtschaftlichen und geographischen Kriegspotentials verholfen. Daher
wurde die Verhinderung einer entscheidenden sowjetischen Niederlage ebenfalls
zu einer Aufgabe des amerikanischen Nationalinteresses. Die Besiegung Englands
hätte die Eroberung des europäischen Rußland nach sich ziehen können, und
umgekehrt hätte die Besiegung der UdSSR England der größten Gefahr ausgesetzt.
All diesen Gefahren mußte entgegengetreten werden, selbst wenn es durchaus wahrscheinlich war, daß Deutschland und
Italien sich übernommen hatten und daher weder England noch die Sowjetunion
oder gar beide entscheidend zu besiegen vermochten. Der Kriegseintritt Japans
würde die Gefahr jedoch erhöhen, während die Ausnützung der strategischen Lage
seitens Japans lediglich zum Zwecke »friedlicher Eroberungen« die USA schwächen
mußte. Um eine zunehmend gefährlichere Entwicklung zu vermeiden, die letzten
Endes dazu führen könnte, die Vereinigten Staaten allein in einen Krieg gegen
ein vom Nationalsozialismus beherrschtes Europa und gegen ein japanisches
Ostasien zu verwickeln, gab es folgende Lösungen:
Die Vereinigten Staaten konnten Großbritannien und die
Sowjetunion materiell unterstützen. Diese Strategie wurde seit 1940 bzw. 1941
durchgeführt, ihr waren jedoch enge Grenzen gesetzt, und der endgültige Erfolg
war zweifelhaft.
Die Vereinigten Staaten konnten sich auf strikte Neutralität
zurückziehen. Dies hätte die Gefahr, die es zu verhindern galt, erhöht und
vielleicht den Sieg Deutschlands und Japans zur Folge gehabt. Außerdem hätte
diese Strategie eine schwere innenpolitische Krise hervorgerufen und wäre nicht
durchführbar gewesen. Die Regierung Roosevelt war jedem Kompromiß mit
dem »Faschismus« abhold.
Die Vereinigten Staaten konnten sich dafür einsetzen, einen
Verständigungsfrieden herbeizuführen. Obwohl vielfach behauptet wird, daß dies
vielleicht möglich gewesen wäre, so wurde diese Strategie, nach einigen
schwächlichen Versuchen, als praktisch undurchführbar aufgegeben. Außerdem
hätte selbst ein vorübergehender Erfolg einen baldigen neuen Krieg kaum
verhindert.
Amerika konnte sich mit Japan auf Kosten Chinas und
vielleicht Großbritanniens und der Niederlande einigen. Selbst wenn es
zutrifft, daß die amerikanische Politik seit etwa 1915 und jedenfalls seit 1931
überbetont antijapanisch eingestellt war, so war ein derartiges renversement
des alliances 1941 nicht mehr durchführbar. Es wäre vielleicht möglich
gewesen, einen modus vivendi zu erzielen, demzufolge Japan seine
Expansion einstellte und auf einen Angriff gegen Siam, Großbritannien, Holland,
die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion verzichtete. Dieser modus
vivendi hätte die Aufgabe Chinas seitens der Vereinigten Staaten
erfordert. Auf japanische Versprechungen aber war kein Verlaß. Außerdem wäre
Europa einem zehnjährigen Krieg überlassen worden. Der Wert dieser Lösung wäre
für die Vereinigten Staaten also äußerst fraglich gewesen. Unter den gegebenen
Umständen gab es im Grunde genommen nur ein einziges machtpolitisch-rationales
Ziel, dessen Erreichung die strategische Sicherheit der Vereinigten Staaten
gewährleisten konnte: die europäischen und asiatischen Achsenmächte
entscheidend zu schlagen. Damit war nicht gesagt, daß dieses Ziel in jeder
Hinsicht ideal war oder als ideal angesehen wurde, oder daß es ohne Schaden für
eine Reihe von amerikanischen Interessen erreicht werden konnte. Im Gegenteil,
die Gefahren wurden klar gesehen. Ferner war nicht gesagt, daß bei einer
Veränderung der strategischen Weltlage nicht neue Ziele hätten bestimmt werden
sollen. Meines Erachtens war die Grundkonzeption der amerikanischen Strategie
richtig, sie wurde aber vielfach unzweckmäßig durchgeführt. Etwa 1943,
spätestens 1944, wäre eine neue strategische Konzeption nötig gewesen. Klar
ist jedenfalls, daß Mitte 1941 Präsident Roosevelt und das gesamte
amerikanische Kabinett die eindeutige Niederwerfung der Achsenmächte als eine unausweichliche
strategische Notwendigkeit ansahen.
Ein klarer Sieg über die Achsenmächte war jedoch ohne die
Kriegsbeteiligung der Vereinigten Staaten nicht zu erreichen. Daher war, um
dieses Ziel zu erreichen, der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten zu
bewerkstelligen. Diese Notwendigkeit wurde von Roosevelt ebenfalls klar
erkannt181. In einem europäischen demokratischen Staat, z. B. in England
oder Frankreich, wäre dieses Problem verhältnismäßig leicht zu lösen gewesen:
man hätte, wie dies ja in einer ähnlichen Lage 1939 geschah, einfach den Krieg
erklärt. In den Vereinigten Staaten war dies jedoch aus verfassungsmäßigen
Gründen nicht durchführbar. Der Präsident ist zwar berechtigt, die Streitmacht
zum Kampf einzusetzen, aber es wäre ohne einen Beschluß des Kongresses
praktisch nicht möglich gewesen, z. B. ein Expeditionskorps nach Europa oder
Asien zu schicken. Der Kongreß muß, selbst wenn er keine Kriegserklärung erläßt,
jedenfalls die für größere Unternehmungen erforderlichen Geldmittel
bereitstellen. Der Kriegseintritt Amerikas konnte daher keineswegs von der
Exekutive allein beschlossen werden. Um diese Schwierigkeit war
verfassungsrechtlich nicht herumzukommen.
Während der
Wahlkampagne von 1940 hatte Roosevelt »again and again and again« versprochen:
»Your boys are not going to be sent into any foreign wars.«[181] Am 23. Oktober 1940
bestätigte er das Wahlprogramm der Demokratischen Partei und sagte, daß Amerika
nicht an fremden Kriegen teilnehmen werde und keine Streitkräfte senden würde
»to fight in foreign lands outside of the Ameri-cas except in case of attack«.
Man vermag diese Zusagen dahingehend umzudeuten, daß, wenn Amerika auch nicht
an »fremden Kriegen« teilnehmen würde, es doch zweifellos seine eigenen Kriege
führen müsse. Das Versprechen ließ sich dennoch nicht leicht verdrehen, und es
wurde von der überwältigenden Mehrheit so verstanden, daß die Vereinigten
Staaten erst dann kämpfen würden, nachdem sie angegriffen worden waren.
Es war unvernünftig von Roosevelt, solche Versprechen
zu geben, und die amerikanischen Bürger hätten ein besseres Verständnis für
die dem Lande gestellten strategischen Aufgaben zeigen sollen. Aber Jahre
hindurch hatte man in Amerika, wie auch in anderen westlichen Demokratien, die
Fragen der nationalen Sicherheit unsachlich behandelt. Die Politiker, die aus
dem Gefühls-Pazifismus der amerikanischen Wähler Nutzen gezogen hatten, saßen
in einer Falle - eine Lage, die sich leicht wiederholen mag und die im Falle
Vietnams bereits wieder eingetreten ist.
Demoskopische Untersuchungen ergaben, daß im Laufe des
Jahres 1941 die Stimmung allmählich zugunsten der Intervention umschlug und die
Bevölkerung schließlich eingriffsfreudiger war als die Regierung. Man scheint
diesen Umschwung in Washington nicht genau erkannt zu haben. Aber es traf,
etwa im November 1941, noch immer zu, daß der Kongreß trotz der demokratischen
Mehrheit weiterhin stark gegen eine Kriegsteilnahme eingestellt war und daß
auch außerhalb des Kongresses die Opposition gegen den Krieg stark blieb.
Wenn im Herbst 1941 Roosevelt den Kongreß einberufen
und ihn aufgefordert hätte, eine Kriegserklärung zu erlassen, so wäre ihm der
Kongreß schließlich wohl gefolgt; aber dies war nicht sicher. Dazu hätte es
vielleicht eine langwierige Debatte gegeben, die aus zahlreichen Gründen
unerwünscht war und das Volk gespalten hätte. Eine Niederlage Roosevelts im
Kongreß oder eine Debatte, in der Geheimnisse preisgegeben worden wären, hätte
die Machtposition der Vereinigten Staaten aufs schwerste erschüttert.
Man kann daraus nicht unbedingt schließen, daß dem
Präsidenten rechtlich die Hände gebunden waren. Aber da die Aufgabe darin
bestand, das Volk zu einigen und es von der Notwendigkeit des Krieges zu
überzeugen[182],
war es wichtig, einen überzeugenden dramatischen Zwischenfall zum Anlaß zu
nehmen, um vom Kongreß die Kriegserklärung zu verlangen.
Es sei unterstrichen: wenn es strategisch richtig war, in
den Krieg einzugreifen, so war es gleichzeitig erforderlich, den amerikanischen
Kriegseintritt nicht allzusehr zu verzögern, sondern diesen spätestens bis
1942 zustande zu bringen. Dies traf zu, obwohl die amerikanischen Rüstungen
noch nicht fertig waren und das Militär noch eine Frist von 6-9 Monaten
wünschte.
Die Lösung dieser Schwierigkeiten war daher klar
vorgezeichnet: es handelte sich darum, den Gegner zu veranlassen, den ersten
Schuß abzufeuern. Da trotz einiger Zwischenfälle auf dem Atlantik
Deutschland für den ersten Schuß nicht in Frage kam, handelte es sich darum, Japan
zu provozieren. Die strategische Aufgabe war gestellt, aber sie konnte,
falls Japan keinen »Liebesdienst« leistete, nur durch jenes Mittel, über das
man streiten kann, nämlich die Provokation, erreicht werden, dessen Existenz
man in der modernen demokratischen Gesellschaft am liebsten verschweigt.
Die Notwendigkeit, die Japaner den ersten Schuß abfeuern zu
lassen, wurde von Roosevelt bereits im Oktober 1940 erkannt. Die
Japaner, so meinte er, würden Fehler nicht immer vermeiden können, und früher
oder später, solange sich der Kriegsschauplatz weiter vergrößere, würden sie
einen Fehler begehen und die Vereinigten Staaten in den Krieg bringen[183].
Am 25. November 1941 besprach Präsident Roosevelt dasselbe Problem mit
dem Außenminister Hull, dem Kriegsminister Stimson, dem
Marineminister Knox, General Marshall und Admiral Stark.
Roosevelt erörterte die Methoden, mit denen die Japaner im allgemeinen ihre
Kriege begannen, und man diskutierte die Notwendigkeit, einem Gegner, der im
Begriffe steht anzugreifen, durch einen vorbeugenden Schlag zuvorzukommen.
Trotz des Risikos, das man einging, wenn man die Japaner den ersten Schuß
abfeuern ließ, beschloß man in diesem Rat, um die volle Unterstützung des
amerikanischen Volkes zu erhalten, die Japaner in eine Lage zu manövrieren, in
der sie sich zum Angriff entschließen würden. Stimson schrieb in sein Tagebuch: »The question was how
we should maneuvre them into the position of firing the first shot without
allowing too much danger to ourselves. It was a difficult proposition.«[184]
General Marshall hatte sich dieser Strategie voll
angeschlossen[185].
In einem Befehl, der am 27. November
1941 General Short, Heereskommandeur in Hawaii, erteilt wurde, heißt es:
»If hostilities cannot ... be avoided, the United States desires that Japan
commit the first overt act.«[186] Es liegen weitere Beweise vor, die dartun, daß
in der Tat die Vereinigten Staaten es darauf abgesehen hatten, Japan in den
ersten Schuß hineinzumanövrieren[187].
Die Einstellung Roosevelts, daß die USA nicht den
ersten Schlag führen sollten, um eine Überraschung zu vereiteln, wurde noch am
6. Dezember 1941, am Vorabend des japanischen Angriffs, bestätigt, nachdem er
die von der Funküberwachung aufgefangenen ersten Teile der die Verhandlung
beendenden Note Tokios gelesen hatte und bemerkte: »This means war.«[188]
Die amerikanische Strategie wurde von einem eingeweihten
englischen Regierungsmitglied, Oliver Lyttelton, am 20. Juni 1944 erörtert: »America
provoked Japan to such an extent that the Japanese were forced to attack Pearl
Harbor. It is a travesty on history to say that America was forced into war.«
Der Richter des Obersten Gerichtshofes, Felix Frankfurter, ein Protege Roosevelts
und Stimsons, erklärte in einer Gedächtnisrede nach dem Tode Roosevelts
in Harvard, daß Roosevelt »so skillfully conducted affairs as to
avoid even the appearance of an act of aggression on our part«[189].
Die amerikanische Absicht kann also als verbürgt gelten, um
so mehr, als sie in keiner Weise überraschend, sondern als geradezu
zwangsläufig erscheint. Die schwierigere Frage ist die: wie kann man eine
solche Absicht auch tatsächlich durchführen? Wie ist es möglich, auf den
zukünftigen Gegner so einzuwirken, daß er einem auch wirklich einen derartigen
Liebesdienst erweist?
Man muß hier zwei Arten von Maßnahmen unterscheiden: die
strategisch-diplomatischen, durch die Druck auf Japan ausgeübt wurde, und die
rein taktischen Maßnahmen. Die Vereinigten Staaten begannen Anfang 1941
gemeinsam mit Großbritannien und den Niederlanden den Chinesen ganz erhebliche
wirtschaftliche und militärische Hilfe in ihrem Kampf gegen Japan zu gewähren.
Am 29. Mai 1941 wurde die Ausfuhr strategischer Güter von den Philippinen nach
Japan eingestellt. Nach der japanischen Besetzung von Nord-Indochina, zu der
Frankreich gezwungenermaßen seine Zustimmung erteilte, verhängten die Vereinigten
Staaten, Großbritannien und die Niederlande ein Handelsembargo und blockierten
die japanischen Konten. Der Panamakanal wurde für japanische Schiffe gesperrt.
Dies war ein schwerer Schlag, da auf diese Weise Japan von dem für die
Schwerindustrie erforderlichen Schrott und auch von seinen wesentlichen
Ölquellen abgeschnitten wurde. Das Embargo kam wegen der besonderen
Abhängigkeit Japans vom Außenhandel einer Blockade gleich (im strategischen,
wenn auch nicht im völkerrechtlichen Sinne). Eine Erwürgungssituation wurde
geschaffen, die nicht lange von Bestand sein konnte und entweder zur Einigung
oder zum Kriege führen mußte. Diese Wirtschaftsstrategie war von Henry Stimson
entworfen worden, der sich bereits seit 1931 mit Blockadeplänen gegen Japan
beschäftigt hatte und den Roosevelt gerade wegen dieser Kenntnisse 1940
ins Kabinett brachte (auch wenn er Republikaner war).
Die amerikanische
Marine sagte in einer Beurteilung dieser Maßnahmen voraus, daß das Embargo
wahrscheinlich die USA in einen Krieg im Pazifik verwickeln würde[190].
Wirtschaftssachverständige und Ölfachleute, offenbar auch
englische Kreise, beurteilten die Lage skeptischer und glaubten weder, daß das
Embargo Japan zum Kriege zwingen noch einen späteren diplomatischen Ausgleich
vereiteln würde. Niemand nahm an, daß das Embargo oder irgendeine andere
Wirtschaftsstrategie ausreichen könnte, um Japan zum Nachgeben zu zwingen. Die
wirtschaftliche Bedeutung und die verschiedenen Hintergründe des Beschlusses
zum Embargo (u. a. die Absicht, die Blockade gegen Deutschland wirksamer
zu gestalten) sind in unserem Zusammenhang nicht weiter wichtig. Entscheidend
ist 1., daß das Embargo Tokio die amerikanischen Absichten kundgab und 2., daß
es Japan erhebliche Schwierigkeiten bereitete und auf die Dauer die
strategische Bewegungsfreiheit Japans eingeschränkt hätte[191].
Das An-die-Wand-Drücken oder die Strangulation sind
altbewährte Methoden der strategischen Provokation, genau wie die Zersetzung
und Revolutionierung. Es sei jedoch nicht übersehen, daß die wirtschaftlichen
Maßnahmen gegen Japan nur Reaktionen auf japanische Angriffe und
Eroberungen darstellten und daß deren Wirksamkeit zum großen Teil durch das
japanische Expansionsprogramm mit seinem Eisen- und Ölbedarf bedingt war. Die
Japaner boten an, Indochina nach Beendigung des Krieges mit China zu räumen:
dafür sollte das Embargo aufgehoben werden! Am 2. Juli 1941, also 12 Tage nach
dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, wurde in Tokio in Gegenwart des
Kaisers von Japan beschlossen, einen Angriff auf die Sowjetunion zu unterlassen, anstatt dessen aber die
Expansion in »südlicher Richtung« fortzuführen und, wie es vorsichtig
formuliert wurde, zum Zwecke der Errichtung des fernöstlichen
»Prosperitäts-Großraumes« einen Krieg gegen England und die Vereinigten Staaten
nicht zu scheuen. Gleichzeitig wurden die japanischen Streitkräfte angewiesen,
sich auf den Krieg gegen diese Mächte vorzubereiten.
Die amerikanische Funküberwachung, welche die japanischen
diplomatischen Geheimdepeschen systematisch bearbeitete, um die Entscheidungen vom
2. Juli zu rekonstruieren, legte am 4. und 9. August zwei Analysen vor, in
denen die Tokioter Beschlüsse folgendermaßen zusammengefaßt wurden: 1. Japan
wird nicht gegen die UdSSR kämpfen; 2. Vorbereitungen zur südlichen Expansion
werden in Gang gesetzt; und 3. Krieg zur Brechung der englisch-amerikanischen
»Einkreisung« wird umgehend vorbereitet[192].
Wurde diese wichtige Entdeckung London umgehend mitgeteilt? Der japanische Plan
war ja sowohl gegen die USA wie auch gegen England gerichtet und erforderte daher
sofortige Vereinbarungen. Eine ausdrückliche Mitteilung war jedoch überflüssig:
den Engländern waren im Januar 1941 zwei von Amerika nachkonstruierte
japanische Kodemaschinen zur Verfügung gestellt worden[193],
so daß sie ebenso wie die Amerikaner der diplomatischen Geheimkorrespondenz
Japans zu folgen vermochten. London wußte also vollauf Bescheid. Auf der
Konferenz, die Roosevelt mit Churchill Mitte August in den
Wassern von Neufundland abhielt, drängten die Engländer die Amerikaner, so
rasch wie möglich entscheidende Maßnahmen zu treffen und vor allem eine
gemeinsame Strategie gegen die japanische Aggression auszuarbeiten[194].
Churchill regte ein Ultimatum an Japan an. Dieser Anregung konnte Roosevelt
zwar nicht Folge leisten, aber er war auch nicht bereit, Japan nachzugeben.
Churchill stimmte dem amerikanischen Verhandlungsplan zu, da entweder
die Japaner sich weigern würden, die amerikanischen Bedingungen anzunehmen oder
»they will go on with their military action while lying about it
diplomatically«[195].
Churchill wollte Krieg mit Japan vermeiden, solange die Vereinigten
Staaten nicht kämpften. Wenn jedoch der japanische Angriff die USA in den Krieg
brachte, "I would be content to have it". Seinen Vertrauten sagte Churchill: "I
would rather have an American declaration of war now and no supplies for six
months than double supplies and no declaration of war." Angeblich
wurde trotz des englischen Drängens nichts sehr Ernsthaftes auf der Konferenz
beschlossen: Sherwood behauptete sogar, daß die britischen und amerikanischen
Dokumente, die er alle eingesehen habe, militärisch uninteressant seien[196].
Man kann jedoch getrost vermuten, daß es den mündlichen Besprechungen an
Interesse nicht fehlte.
Wie dem auch sei, Roosevelt verhandelte sofort nach
seiner Rückkunft am 17. August 1941 mit dem japanischen Botschafter, dem er
klarlegte, die Vereinigten Staaten würden eine weitere Expansion Japans nicht
dulden. Am Vortage, nach einer Konferenz mit dem Außenminister Hull, hatte
der japanische Botschafter nach Tokio telegraphiert, die Engländer wären daran
interessiert, daß, um die USA in den europäischen Krieg zu ziehen, ein
japanisch-amerikanischer Krieg an der »Hintertür« im Stillen Ozean ausgelöst
werde[197].
Am 2. Oktober verlangten die Vereinigten Staaten von Japan, daß es sich sowohl
aus China wie aus Indochina zurückziehen solle. Daraufhin demissionierte am 16.
Oktober das Kabinett des Fürsten Konoye, der sich bemüht hatte, die
Dinge nicht zum Äußersten kommen zu lassen und der Roosevelt um eine Konferenz
bat, was Roosevelt jedoch abschlug. Am 18. Oktober wurde General Tojo
zum japanischen Premierminister ernannt, was die klare, aber nicht
allgemein erkannte Bedeutung besaß, daß Japan nunmehr zu ernsthaften kriegerischen
Maßnahmen übergehen werde. Am 7. November besprach Roosevelt die
strategische Lage mit seinen Hauptberatern. Der Befund der Beratung war, daß
bei einem amerikanischen Widerstand gegen weitere japanische Angriffe sich die
Regierung wahrscheinlich der vollen politischen Unterstützung seitens des amerikanischen
Volkes erfreuen würde.
Das Tempo begann sich zu beschleunigen, aber einige
amerikanische Militärs waren wegen des Rückstands in der amerikanischen Rüstung
daran interessiert, den Zusammenstoß mit Japan noch hinauszuzögern. Man schlug
vor, einen modus vivendi für ein paar Monate auszuhandeln und zu diesem
Zwecke Japan vorübergehend wieder mit Öl zu beliefern. Der Vorschlag wurde
abgelehnt, und am 26. November wurde Japan seitens der Vereinigten Staaten eine
Note ausgehändigt, welche die Aufhebung aller wirtschaftlichen Beschränkungen
zusagte, falls Japan seine Truppen aus China und Indochina zurückziehe; die
Unterstützung der japanischen Satellitenregierungen in China und Mandschukuo
aufgebe und anstatt dessen die Regierung Tschiang Kai-scheks anerkenne,
den Vertrag mit Deutschland und Italien kündige und einen Nichtangriffspakt abschlösse,
der die Philippinen, Sibirien, Niederländisch-Indien, China und Siam gegen
japanischen Angriff sichere. Es war klar, daß, ähnlich wie das österreichisch-ungarische
Ultimatum an Serbien 1914, diese Note, selbst wenn es sich nicht um ein
Ultimatum im technischen Sinne des Wortes handelte, von Japan abgelehnt werden
mußte und daher in kürzester Frist Krieg zur Folge haben würde. Über die Bedeutung
dieser Note herrschte in Washington kein Zweifel, und der amerikanische Außenminister
Cordeil Hull teilte dem Kriegs- und Marineminister unverblümt mit, seine
Rolle sei jetzt ausgespielt und es sei nunmehr die Aufgabe seiner Kollegen,
für die Sicherheit des Landes zu sorgen. Am 27. November benachrichtigte Roosevelt
London auf einem ganz geheimen Sonderweg, die Verhandlungen mit Japan seien
abgebrochen worden; die amerikanischen Streitkräfte erwarteten Krieg innerhalb
von zwei Wochen. Diese Mitteilung wurde Sir William Stephenson, einem
Vertreter des englischen Geheimdienstes in den USA, vom Präsidenten durch
seinen Sohn James Roosevelt übermittelt. Einige Tage später erfolgte die
Bestätigung seitens des amerikanischen Außenministeriums an den britischen
Botschafter[198].
Parallel mit den gegen Japan gerichteten Zügen hatten sich die Vereinigten
Staaten mit Großbritannien und Holland über einen Kriegsplan im Stillen Ozean
geeinigt. Technisch gesprochen handelte es sich hierbei, da die erforderlichen
Unterschriften der höchsten Stellen fehlten, lediglich um einen »Entwurf«.
Diese verschiedenen Maßnahmen müssen als normal und selbst unausweichlich
angesehen werden, da sie ja weiterhin im großen und ganzen nur Gegenmaßnahmen
zu japanischen Initiativen darstellten. Allerdings war der Note vom 26.
November kein neuer japanischer Angriff vorangegangen, aber die jüngsten
Eroberungen wurden konsolidiert, und der Krieg in China nahm seinen Fortgang.
Die revisionistische Schule, die die amerikanische Note gern kritisiert, weil
diese zum Krieg geführt hätte, unterläßt es meistens, diesen and andere
Schritte im Zusammenhang mit der langen Serie japanischer Angriffe zu
behandeln. Es ist auch völlig irrig, wenn man Kriegsplanung als einen Bruch der
Neutralitätsgesetze ansieht. Präsident Roosevelt besaß die volle
verfassungsmäßige Autorität, um jedwede strategische Planung anzuordnen, und
er wäre seinen Amtspflichten nicht nachgekommen, wenn er angesichts der nun
einmal nicht zu bestreitenden Kriegsgefahr nicht rechtzeitig Vorbereitungen zu
wirksamer Verteidigung bewilligt hätte[199].
Die offiziösen Historiker, die diese Maßnahmen
ausschließlich als eine Reaktion auf japanische Angriffe hinstellen wollen,
haben jedoch ebenso unrecht. Die amerikanische Poltitik war keineswegs auf
Vermeidung des Krieges mit Japan abgestellt, sondern zielte darauf ab, Japan
durch Zwangsmaßnahmen aller Art zu einer Entscheidung zu zwingen. Wenn die japanischen
Strategen Wirklichkeitssinn besessen hätten, so würden sie in dieser
Zwickmühle nicht den Krieg gegen Amerika, den sie niemals gewinnen konnten,
gewählt haben, sondern sie hätten sich zu einem Ausgleich mit den Vereinigten
Staaten entschlossen, für welchen, trotz der Note vom 26. November 1941, die
Vereinigten Staaten vielleicht zu haben gewesen wären. Aber die Psychologie
der japanischen Führer war bekannt, und die USA wollten den Krieg. Daher
unternahm Washington nichts, um die gemäßigten Elemente in Japan zu stärken. Roosevelt
hätte dem Treffen mit Konoye zweifellos zugestimmt, wenn er den
Krieg hätte vermeiden oder auch nur auf längere Zeit verzögern wollen. Die
Absicht, die Japaner zum ersten Schuß zu veranlassen, war ein wesentlicher
Bestandteil aller damaligen Entscheidungen Washingtons. Nimmt man diese Zielsetzung
nicht zur Kenntnis, so werden die Ereignisse eben nicht richtig dargestellt.
Es ist ferner auch ungenau, bei der Betonung des
amerikanischen Kriegswillens den klar vorliegenden japanischen
Kriegswillen - zumindest unter der Regierung Tojos - zu übersehen. Die Note vom
26. November war darauf angelegt, den Krieg herbeizuführen. Dies stimmt. Jedoch
wurde der japanische Nachrichtendienst bereits am 15. November angewiesen, die
Liegeplätze der amerikanischen Kriegsschiffe im Hafen von Pearl Harbor nach einem
genau vorgeschriebenen System anzugeben und alle Verschiebungen umgehend zu berichten[200].
Am 18. November wurde ein Radiokode durchgegeben, um die japanischen Botschaften
und Konsulate durch fingierte Wetterberichte rasch vor bevorstehenden Feindseligkeiten
en clair warnen zu können. Die japanische Flotte sammelte sich am 21.
November zur Ausfahrt und stach am 25. November in See. Damit waren die Würfel zwar noch nicht gefallen,
da der Angriff in letzter Minute hätte abgeblasen werden können. Aber man kann
angesichts dieser Zeitenfolge den japanischen Angriffswillen nicht aus der
amerikanischen Note vom 26. November ableiten. Als die Note überreicht wurde,
bewegte sich die japanische Flotte bereits gegen Hawaii, und an dem bereits am
7. November geplanten Angriffsdatum wurde festgehalten. Der Angriffsplan wäre
nur dann abgeblasen worden, wenn Washington bis zum 29. November freie Hand in
Ostasien zugebilligt hätte.
Soweit herrscht über die Tatsachen kaum wesentlicher
Zweifel. Am 26. November wußte Washington aus den aufgefangenen japanischen
Chiffre-Depeschen längst, daß eine prinzipielle Kriegsentscheidung bereits
vorlag. Aber Japan hätte den Angriff gegen die Vereinigten Staaten unterlassen
und sich auf einen Angriff gegen Singapur, Hongkong und Niederländisch-Indien,
allenfalls noch gegen die Philippinen, beschränken können. Ein Angriff in Asien
hätte Roosevelt zwar geholfen, hätte aber wahrscheinlich nicht
ausgereicht, um die Vereinigten Staaten sofort in den Krieg zu ziehen. Ein
Angriff auf die Philippinen hätte notwendigerweise eine amerikanische
Kriegserklärung zur Folge gehabt, er hätte aber kaum die moralische Einigung
geschaffen, an der Roosevelt mit Recht soviel gelegen war.
Um Amerika sofort und in der richtigen Weise in den Krieg zu
verwickeln, mußten die Vereinigten
Staaten selbst unmittelbar bedroht werden. Die Frage war also die:
Vorausgesetzt, es ist möglich, die Japaner zum ersten Schuß zu veranlassen,
gegen welches Ziel sollte dieser erste Schuß tunlichst gerichtet sein? Ein japanischer
Angriff auf Alaska hätte wenig bedeutet und auch für die Japaner kaum Sinn
gehabt. Ein Angriff gegen die amerikanischen Inseln im mittleren Pazifik war
durchführbar, aber unwahrscheinlich und hätte ebenfalls keine auslösende
Wirkung ausgeübt. Ein Angriff auf Panama hätte diese Wirkung zwar gehabt,
vielleicht sogar noch mehr als ein Angriff gegen Hawaii, aber er war, da in
diesem Fall die japanische Flotte keine Überraschung erzielen konnte, militärisch
völlig unratsam. Das gleiche galt für einen Angriff gegen die Westküste der
Vereinigten Staaten, insbesondere gegen Puget Sound, San Francisco und San
Diego: dies war für die japanischen Strategen viel zu riskant. Hawaii war daher
der gegebene Ort, wo Japan eine wirksame Operation durchzuführen vermochte und
wo außerdem der japanische Angriff die gewünschte moralische Wirkung in den
Vereinigten Staaten nach sich ziehen mußte.
Aber warum sollte Japan Pearl Habor überhaupt angreifen?
Eine Besetzung der Inseln war undurchführbar und auch zwecklos. Überhaupt war
es unangebracht, die strategischen Probleme eines Krieges im Stillen Ozean vom
Gesichtspunkt des Landkrieges aus zu beurteilen. Es handelte sich nicht darum,
Positionen zu erobern, sondern darum, die Seeherrschaft zu gewinnen, welche
die conditio sine qua non aller später durchzuführenden Landeroberungen
darstellte. Das primäre japanische strategische Ziel mußte daher die Zerstörung
der amerikanischen Flotte sein. War die amerikanische Flotte einmal
zerschlagen und kurz danach auch die britische Flotte, die in Singapur lag (und
die kürzlich verstärkt worden war), dann waren die Japaner Herren des Pazifik[201].
Wenn man daher die Japaner provozieren wollte, so mußte man in ihnen die
Überzeugung erwecken, daß eine einzige und vielleicht nie wiederkommende
Gelegenheit gekommen war, um die konzentrierte amerikanische Schlachtflotte zu
besiegen und ihr eine solche Niederlage zuzufügen, daß Japan zwei oder drei
Jahre lang Zeit haben würde, um seine Eroberungen zu konsolidieren.
Es gibt keine Dokumente, die belegen würden, daß Roosevelt
allein oder mit seinen Beratern oder mit Churchill Überlegungen
dieser Art angestellt hat. Militärisch ungeschulte Historiker können sich
nicht gut vorstellen, wie man derartige Analysen zum Zwecke der Planung
durchzuführen vermag. Sicherlich ist dies nachträglich viel leichter, aber es
ist der Beruf der Planungsoffiziere, sich derartige Fragen zu überlegen. Die
Aufgabe, 1944 das OKW über den Ort der angloamerikanischen Landungen in
Frankreich zu täuschen - eine Aufgabe, die glänzend gelöst wurde —, war
unvergleichlich schwieriger. Die Überlegungen über die japanische Strategie im
Pazifik waren hingegen recht elementarer Natur und können durchwegs
gesprächsweise erfolgt sein. Die Gedankengänge waren grundsätzlich allen jenen
vertraut, die die Schriften von Admiral Mahan kannten. Es war der
amerikanischen Marine, deren Doktrin von Mahan stammte, wohlbekannt, daß
sich auch die Japaner als Anhänger der Mahanschen Theorien betrachteten.
Daher stand die Flotte im Mittelpunkt der Betrachtungen, nicht irgendein
Festland.
Nichtsdestoweniger liegen keinerlei Beweise eines solchen
Räsonnements vor. Aber folgende Überlegungen mußten regelmäßig angestellt
werden: Wo war die Schlachtflotte zu stationieren? Welche Gefahren drohten dieser
Flotte? Die pazifische Flotte wurde entgegen dem Anraten der Admirale auf
ausdrücklichen Befehl Roosevelts in Pearl Harbor gehalten. Die Admirale
erhoben dagegen Einspruch, weil bei der damaligen Rüstungslage die Flotte nicht
ausreichend gesichert werden konnte und außerdem die Transporterfordernisse
einer in Hawaii liegenden Flotte die Stärkung der amerikanischen Seemacht
verzögerten sowie die Knappheit an Tankerraum auf allen Ozeanen erhöhten. Roosevelt
entgegnete, daß die Flotte von Hawaii aus eine dämpfende Wirkung auf Japan
ausüben würde, was ihn jedoch nicht hinderte, Schiffe in den Atlantik zu
verlegen[202].
Man hat die These der Abschreckung als nicht stichhaltig verworfen, aber dies
ist nicht überzeugend, da die Flotte von Pearl Harbor aus tatsächlich um etwa
sieben Tage rascher in eine Schlacht hätte geworfen werden können. Dem steht
gegenüber, daß nur eine in Pearl Harbor liegende Flotte als Köder dienen
konnte, daß sie sich trotz gewichtiger Bedenken in Pearl Harbor befand und daß Roosevelt
den Kommandeur der Flotte, der darauf bestehen wollte, diese an die
Westküste zu verlegen, verabschiedete.
Handelte es sich also um Abschreckung oder um eine Falle?
Wenn die Flotte der Abschreckung dienen sollte, dann mußte man für ihre
Sicherheit volle Sorge tragen. Wenn sie jedoch als Köder gedacht war, dann
mußte die Flotte dem japanischen Nachrichtendienst als mehr oder weniger
wehrlos erscheinen. Sicher ist, daß die Sicherheit Pearl Harbors viel zu
wünschen übrigließ. Es wird behauptet, daß es bei der damaligen Rüstungslage
nicht möglich war, in Hawaii die zur ausreichenden Sicherung notwendigen
Aufklärungsflugzeuge, Jagdflugzeuge, Bomber, Abwehrgeschütze und Radargeräte
aufzustellen. Wären z. B. genügend Aufklärungsflugzeuge vorhanden gewesen, so
hätte man regelmäßige Aufklärungsflüge nach allen Richtungen angeordnet, und
die japanische Flotte hätte sich der Inselgruppe nicht unbemerkt nähern können.
Ich halte dieses Argument für stark übertrieben: angesichts der drohenden
Kriegsgefahr war eine erheblich stärkere Verteidigung für die Flotte zu
beschaffen. Aber nehmen wir ruhig an, daß das erforderliche Material fehlte.
Unter diesen Umständen wäre es nötig gewesen, die Flotte weitgehend durch
den Nachrichtendienst zu sichern, so daß sie bei drohender Kriegsgefahr
sofort auslaufen konnte: dazu waren nur drei Stunden erforderlich[203].
Hiergegen läßt sich einwenden, daß man 1941 nicht unbedingt
einen Luftangriff erwartete, diesen sogar für nicht sehr wahrscheinlich hielt[204], und daß die Flotte
bei plötzlichem Auslaufen gegebenenfalls von Unterseebooten und
Trägerflugzeugen hätte angegriffen werden können. Dies hat eine gewisse
Berechtigung aber dann mußte man für wirksame Verteidigung im Hafen Sorge
tragen. Die Abwehrbatterien auf den Kriegsschiffen waren alle befehlsgemäß
bemannt und feuerten innerhalb von 4-7 Minuten[205]. Aber Flak-Feuer
genügte nicht, um die Flotte, besonders gegen tief fliegende Flugzeuge, zu
verteidigen. Im Falle rechtzeitiger Warnung wäre die Flotte kampfbereit gemacht
worden, selbst wenn sie nicht ausgelaufen wäre. Alle Mannschaften wären auf
Station gewesen, die Schotten wären geschlossen worden und die Schiffe hätten
die besten Stellungen innerhalb des Hafens bezogen. Außerdem wären genügend
amerikanische Flugzeuge in der Luft gewesen. Eine rechtzeitige Warnung hätte
daher zweifellos eine sehr bedeutende Wirkung auf den Ausgang dieser Schlacht
ausgeübt, ganz davon abgesehen, daß gegebenenfalls auch eine offensive Verwendung
der Flotte möglich gewesen wäre.
Um sicherzustellen, daß die Flotte sowie die
Heeresabteilungen in Hawaii, deren Aufgabe es war, den Stützpunkt zu
verteidigen, rechtzeitig gewarnt wurden, war es u. a. nötig, in Pearl Harbor
Dechiffriermaschinen aufzustellen, um die wichtigsten japanischen Kodes
entschlüsseln zu können. Diese Maschinen waren verhältnismäßig billig und bei
guter Planung schnell zu beschaffen. Tatsache ist, daß in Pearl Harbor keine
der Maschinen, die den sog. "purple code" des japanischen Außenamtes
zu lesen vermochten, aufgestellt worden war. Da die hauptsächlichsten Warnungen
über den bevorstehenden japanischen Angriff aus dem "purple code"
entschlüsselt wurden und da man den Engländern gab, was man Pearl Harbor
vorenthielt, wurde von einigen Historikern geschlossen, Washington habe die
Kommandostellen in Hawaii auf lange Sicht hin blenden und taubmachen wollen.
Die Frage, warum Pearl Harbor keine Purple-Maschine besaß, war der Gegenstand
einer irreführenden Kontroverse[206].
Es gab insgesamt 8 Purple-Maschinen: 4 in Washington, 3 in
London und eine auf den Philippinen[207].
Zwei der Londoner Maschinen waren England im Januar 1941 gegeben worden; die
dritte Londoner Maschine war ursprünglich für Pearl Harbor bestimmt gewesen und
wurde im September oder Anfang Oktober 1941 nach England umdirigiert. Im
September wurde in Washington beantragt, 4 weitere Purple-Maschinen zu bauen;
dem Antrag wurde jedoch erst nach dem japanischen Angriff stattgegeben.
Der Entschluß, die dritte Purple-Maschine an England abzugeben und sie damit
Pearl Harbor vorzuenthalten, wurde vom Joint Board des Heeres und der Flotte
(der Vorläufer-Organisation der Joint Chiefs of Staff) getroffen, entgegen den
Empfehlungen des Nachrichtendienstes und führender Offiziere. Es war klar, daß
Pearl Harbor eine Purple-Maschine für geraume Zeit nicht erhalten konnte; es
wurde dennoch unterlassen, den sofortigen Bau der beantragten zusätzlichen
Maschinen anzuordnen. Keineswegs war es jedoch klar, warum die Aufstellung
einer dritten Maschine in London dringlicher war als die Aufstellung einer
ersten Maschine in Pearl Harbor. Vermutlich wurde argumentiert, daß der
"purple code" dem diplomatischen Verkehr diente und von der
japanischen Flotte nicht benutzt wurde, was zutreffend war. Nichtsdestoweniger
vermittelte die Purple-Maschine die entscheidende Warnung.
Die weitverbreitete Ansicht, wonach Pearl Harbor keine
wirksame Funküberwachung besaß, ist allerdings unzutreffend. Pearl Harbor
besaß die sog. »red machine«, durch welche sowohl diplomatischer wie
Marine-Nachrichtenverkehr entschlüsselt werden konnte. (Andere »red machines«
standen auf den Philippinen, in London, Singapur und zwei im Marineministerium
in Washington.) Außerdem befanden sich in Pearl Harbor die »rekonstruierten« Kodebücher
der japanischen Flotte und des japanischen Konsulardienstes, welcher Nachrichten
des japanischen Spionagenetzes weitergab. Der neue Flottenkode war jedoch erst
auf dem Wege nach Pearl Harbor - eine ursprünglich für Pearl Harbor bestimmte,
rechtzeitig fertiggestellte Kopie dieses Kodebuches war auf Ersuchen des
Kommandeurs des Asiatischen Geschwaders der US-Flotte im Juli nach Singapur
gesandt worden. Obwohl Pearl Harbor durch dieses Kodebuch gewonnene Nachrichten
aus den Philippinen erhielt, waren Verzögerungen und Lücken unvermeidlich, und
die in Pearl Harbor arbeitende Funküberwachung war durch das Fehlen dieses
Kodebuches in ihrer Beobachtung der japanischen Flotte stark behindert.
Die Entscheidungen, die Pearl Harbor die Purple-Maschine
versagten und den Erhalt des neuen Flottenkodes verzögerten, wurden nicht von Roosevelt,
der von der Angelegenheit anscheinend nichts wußte, sondern von
militärischen Stellen getroffen, und zwar in der Absicht, den
Engländern zu helfen. Die These, man habe Pearl Harbor bereits im Sommer 1941
durch Vorenthalten von Funküberwachungsbehelfen
absichtlich im Dunkeln gelassen, läßt sich somit nicht aufrechterhalten.
Aber selbst angenommen, der fragwürdige Beschluß, dem
englischen Nachrichtendienst zu helfen, anstatt die amerikanische pazifische
Flotte zu sichern war berechtigt: da man in Washington wußte, daß Pearl Harbor
keine Purple-Maschine besaß und das japanische Flottenkodebuch noch nicht in
Pearl Harbor eingetroffen war, so mußten die Kommandostellen in Hawaii
ausreichend mit den erforderlichen Nachrichten versehen werden. Falls, was wahrscheinlich
ist, Marshall Präsident Roosevelt über die Behinderung des
Nachrichtendienstes in Hawaii nicht aufgeklärt hat, lud er eine gehörige
Verantwortung auf sich. Die Notwendigkeit der ausreichenden
Nachrichtenversorgung wurde seitens des Oberbefehlshabers der pazifischen
Flotte in Washington dargelegt, und alle gewünschten Zusagen wurden gemacht[208].
Bis zum August 1941 wurde Pearl Harbor ausreichend informiert. Vom August bis
Anfang Dezember war die Nachrichtenversorgung dagegen eindeutig ungenügend. Da
jedoch Kenntnis von japanischen Depeschen vermittelt wurde, Pearl Harbor also
annehmen konnte, alle wichtigen Interzepte zu erhalten, obwohl es tatsächlich
nur einen Teil der japanischen
Korrespondenz zu sehen bekam, entstand ein falsches Bild. Das
Zurückhalten wichtiger Feindnachrichten wurde damit erklärt, daß es einfach
nicht möglich gewesen sei, alle Nachrichten, die sich in Washington befanden,
an die vorgeschobenen Posten weiterzugeben[209],
und daß die Washingtoner Stellen »were not invariably good judges of what
material would be most useful to the theaters«. Dies stimmt, aber genau deshalb
wird in solchen Fällen ein Verteilersystem
systematisch ausgearbeitet. So ein System muß auf einer unveränderlichen
Grundregel aufgebaut sein: jeder Befehlshaber erhält alle Nachrichten, die
sich auf seinen Kriegsschauplatz beziehen.
In der Zeit vom 24. September bis zum 29. November 1941
wurden sieben Radiogramme aufgefangen, die sich auf den Kriegshafen von Pearl
Harbor, die dort liegenden Kriegsschiffe
und das Berichtssystem der japanischen Spionage in Pearl Harbor bezogen.
Keine dieser Depesdien - alle waren vor dem Angriff dechiffriert — wurde an
Pearl Harbor weitergegeben. Dies kann unmöglich dem Verteilersystem entsprochen
haben, es sei denn, der Verteiler schloß Pearl Harbor aus. Ein oder zwei
Versehen wären denkbar, aber nicht sieben in zwei Monaten.
Ein wichtiger japanischer Erlaß stammte vom 24. September
und teilte den Kriegshafen in fünf Sektoren ein. Der Verteiler zeigte, daß eine
Kopie der Nachricht an den Befehlshaber des Asiatischen Geschwaders ging.
Einer Zeugenaussage zufolge wurden »automatisch« alle für die Philippinen
bestimmten Nachrichten auch an Pearl
Harbor übermittelt; ein anderer Zeuge bestritt dies jedoch, wahrscheinlich
mit Recht[210].
Wie kann aber eine auf Pearl Harbor bezügliche, offensichtlich wichtige
Nachricht nicht ausdrücklich für Pearl Harbor bestimmt werden? Wenn der
Verteiler »automatisch« Pearl Harbor vorsah, wie kommt es dann, daß diese
Nachricht Pearl Harbor nicht zugeleitet wurde? Um den hier kaum zu unterdrückenden Verdacht zu entkräften, wurde
ausgesagt, man hätte diesem japanischen Erlaß keine besondere Bedeutung
beigemessen - die Japaner wollten offenbar ihr Berichtssystem vereinfachen, sie
wären immer an zu vielen Details interessiert gewesen, es möge sich zwar um
»bomb-plot«-Nachrichten gehandelt haben, aber die Informationen konnten sich
auch auf Flottenbewegungen beziehen, und ähnliche Nachrichten wurden von
zahlreichen anderen Orten wie Manila, Panama, Seattle und San Diego
übermittelt. Selbst wenn dies alles stimmte, so war die Beurteilung Aufgabe des
Flottenbefehlshabers, und er mußte die Nachricht erhalten. Aber es stimmte
nicht alles: 1. Kein anderer amerikanischer Hafen oder Flottenstützpunkt war
vom japanischen Nachrichtendienst in Abschnitte aufgeteilt worden, nur Pearl
Harbor[211]. 2.
Die Berichterstattung über Pearl Harbor war qualitativ verschieden von der über
andere Häfen. 3. Es handelte sich nicht um Fleißaufgaben der japanischen
Konsuln, sondern die Nachrichten waren von den höchsten Regierungsspitzen
verlangt worden, und die Korrespondenz ging über einen der sichersten Kodes. 4.
Der Erlaß war der Ursprung einer ganzen Vorgangsserie, in deren Verlauf
besondere Vorsicht und Geheimhaltung wiederholt angeordnet wurden. 5. Am 29.
November wurde Honolulu von Tokio angewiesen, auch dann zu berichten, wenn
keine Flottenbewegungen stattfinden. 6. Das japanische Interesse an der
pazifischen Flotte mußte im Zusammenhang mit allen anderen Nachrichten gedeutet
werden.
Die Tatsache bleibt bestehen, daß Pearl Harbor höchst
bedeutsame, auf den Hafen und die Flotte bezügliche Nachrichten vorenthalten
wurden. Die Erklärungen dieser Unterlassung sind nicht überzeugend, da sie mit
militärischen Prozeduren und Denkweisen nicht übereinstimmen und da
offenkundig Unregelmäßigkeiten vorkamen, die man nicht untersuchte. Alle
fragwürdigen Erläuterungen werden klar durch die Tatsache widerlegt, daß,
obwohl Pearl Harbor bis zum Juli 1941 ausreichend informiert wurde, es Admiral Kimmel
im August nicht mitgeteilt wurde, er werde von nun an aus »security
reasons« die Dechiffrierungen des wichtigsten japanischen Kodes nicht mehr
erhalten, und zwar weder von Washington noch von den Philippinen[212]. Es handelte sich
also sehr wohl um einen verschwiegenen
Entschluß, nicht um Schlamperei. Wenn aus technischen Gründen oder aus Furcht,
die Japaner könnten entdecken, daß die Amerikaner ihre Geheimdepeschen
ohne Schwierigkeit lasen, die Nachrichtenübermittlung nach Pearl Harbor
abgedrosselt wurde, so wäre es notwendig gewesen, wie dies auch in früheren
Krisenzustanden wiederholt geschah, den Kommandeuren in Pearl Harbor
entsprechende Befehle zu erteilen. Diese Notwendigkeit bestand selbst dann,
wenn ausreichende Nachrichten übermittelt worden wären. Aber die erforderlichen
Befehle wurden eben nicht erteilt.
Schließlich war es noch erforderlich, für Warnungen und
Befehle ein schnellstes System bereitzuhalten, darunter auch Kodeworte für das
Telefon und Vereinbarungen für telefonische Anweisungen en clair. Ein
solches System hat zweifellos bestanden. Ferner gab es eine Telefonverbindung
zwischen Washington und Pearl Harbor, die gegen Abhören gesichert war. Aber
selbst in extremis wurde keine dieser Möglichkeiten benützt.
Angesichts dieser Umstände müssen wir verschiedene
Einzelfragen untersuchen.
1. Waren Nachrichten vorhanden, die das Bevorstehen eines Angriffes bewiesen?
Genügend Anzeichen lagen spätestens seit dem 15. November vor. Seit dem 16.
November hatte die amerikanische Funküberwachung die japanischen Flugzeugträger
»verloren«, da diese ihre Funkgeräte nicht benutzten und Funktäuschung
ausübten - ein klassisches Alarmzeichen. Am 24. November besaß die Marine
genügend Nachrichten, um vor einem japanischen Angriff »in any direction« zu
warnen. Am 30. November benachrichtigte Tokio sowohl Berlin als auch Rom, Krieg
stünde unmittelbar bevor. Ähnliche Mitteilungen, wenn auch in etwas
verklausulierter Form, waren bereits früher an die japanische Botschaft in
Washington gelangt, allerdings mit dem Zusatz, daß amerikanische Konzessionen
eventuell den Lauf der Dinge aufhalten könnten. Am 1. Dezember wurden die »call
signs« der japanischen Kriegsschiffe geändert. Dies geschah normalerweise jedes
halbe Jahr, war aber zuletzt am 1. November erfolgt. Außerdem beachtete die
japanische Flotte weiter ungewöhnliche Funkstille. Am gleichen Tag befand sich
der amerikanische Nachrichtendienst im Besitz von mehreren voneinander
unabhängigen Anzeichen für den bevorstehenden Krieg. Am 2. Dezember erließ
Tokio Anweisungen an die verschiedenen diplomatischen Missionen, die
Chiffriermaschinen zu zerstören und Geheimmaterial zu verbrennen. Die
japanische Botschaft in Washington wurde angewiesen, eine einzige Maschine
gebrauchsfähig zu erhalten. Der amerikanische Nachrichtendienst ahnte noch
immer nicht, wo die japanischen Flugzeugträger sich befanden. Am 3. Dezember
wies Washington die amerikanische Botschaft in Tokio an, die Chiffriermaschine
und Geheimmaterialien zu zerstören. Außerdem wurde der Befehlshaber des
amerikanischen Asiatischen Geschwaders in Manila, nicht aber der
Befehlshaber der pazifischen Flotte in Pearl Harbor[213]
informiert, daß Tokio die Zerstörung der japanischen Chiffriermaschinen in
Batavia, London, Hongkong, Singapur, Washington und Manila befohlen habe. Am
Nachmittag des 6. Dezember, rund 22 Stunden vor dem Angriff auf Pearl Harbor,
waren in Washington 13 Teile einer 14teiligen japanischen Note, die offenbar
die Begründung einer Kriegserklärung oder die Kriegserklärung selbst
darstellte, entziffert worden.
Als diese Entzifferung in den Abendstunden Präsident Roosevelt
gebracht wurde, hegte dieser nicht den geringsten Zweifel, daß Krieg vor
der Tür stand: »This means war«, sagte er[214].
Die Texte ließen hierüber in der Tat keinen Zweifel zu, und jeder der mit der
Angelegenheit befaßten Offiziere und Minister war sich im klaren darüber, daß
der Krieg in den nächsten Stunden ausbrechen würde. Sobald Roosevelt wußte,
was los war, sandte er »for the record«, wie Außenminister Hull später
enthüllte, eine »Friedensbotschaft« an den Mikado[215].
Am Abend des 6. Dezember wurde eine Anweisung für den
Befehlshaber der pazifischen Flotte geschrieben, die mit den Worten begann:
»Angesichts des bevorstehenden Krieges .. .« (»In view of the imminence of war .. .«) Diese
Worte wurden abgeändert und lauteten dann: »Angesichts der internationalen Lage
.. .« Die Botschaft war nichtsdestoweniger eine Warnung und enthielt
Anweisungen, die auf drohende Kriegsgefahr schließen ließen, aber sie wurde als
»deferred« (nicht dringlich) gesandt und kam daher zu spät an. Eine Warnung des
Marineministers Knox an Admiral Kimmel in Pearl Harbor, deren
Text nicht bekannt ist, wurde offenbar überhaupt nicht gesandt, was geradezu
unglaublich klingt. Dieser Vorfall wurde totgeschwiegen[216].
2. Falls eine Regierung sich im Besitz von verbürgten
Nachrichten über einen bevorstehenden Krieg befindet, werden normalerweise alle
Oberbefehlshaber hiervon warnend in Kenntnis gesetzt — oder wird angenommen,
daß diese sowieso über die Lage orientiert sind? Es besteht kein Zweifel
darüber, daß im Falle unmittelbarer Kriegsgefahr die Stabschefs dienstlich dazu
verpflichtet sind, die entsprechenden Warnungen zu erlassen, genau wie das Außenministerium
die diplomatischen Posten warnt. Selbst wenn angenommen würde, daß die Befehlshaber,
die der Warnung bedürfen, informiert sind, so würde dies geprüft werden oder
eine Warnung würde automatisch ergehen. Außerdem würde eine solche Annahme nur
dann gerechtfertigt sein, wenn man weiß, daß die Befehlshaber Zugang zu den
kritischen Nachrichtenquellen besitzen. Es war in Washington wohlbekannt, daß
die wichtigsten japanischen Depeschen in Pearl Harbor nicht vorlagen. Wenn ein
Generalstabschef es unterläßt, Kriegswarnungen auszusenden und dies tut, weil
er entweder die Bedeutung der Nachrichten nicht erkannte oder weil er
leichtfertig handelte, so wird er geradezu zwangsläufig vor ein Kriegsgericht
gestellt; jedenfalls bleibt er nicht im Amt und bekleidet nodi durch Jahre
hindurch die verantwortungsvollsten Posten. Präsident Roosevelt würde
hochgestellte Offiziere, die so versagt hatten, kaum um sich behalten haben.
General Marshall blieb jedoch bis zum Kriegsende der einflußreichste
amerikanische Offizier.
3. War das Verhalten des amerikanischen Oberkommandos im
Dezember 1941 normal oder absonderlich? Am 17. Juni 1940 hielt Washington eine
Krise für möglich. Eine Warnung wurde nach Pearl Harbor gesandt mit dem Befehl,
Vorbereitungen zur Verteidigung gegen einen möglichen transpazifischen »raid«
zu treffen. Außerdem wurden Sonderinstruktionen für geheime Kommunikationen
mit dem Stabschef (also Kodeworte) erlassen. Nach einigen Tagen wurde Befehl
gegeben, die Alarmbereitschaft abzublasen[217].
(Die Marine hatte an dieser Warnung nicht teilgenommen, weil sie nicht an eine
bevorstehende Gefahr glaubte.) Am 25. Juli 1941, einen Tag, bevor die
Sanktionen gegen Japan verhängt wurden, wurde dieser bevorstehende Schritt den
Befehlshabern bekanntgegeben. Außerdem wurden die wichtigsten
Geheimdienst-Nachrichten zweckmäßig verteilt. Am 16. Oktober 1941, nach dem
Sturz des Konoye-Kabinetts, wurden die Befehlshaber der atlantischen,
asiatischen und pazifischen Flotten vor der Möglichkeit eines japanischen Angriffs
gegen die USA, England oder Rußland gewarnt, »preparatory deployments« für die
pazifische Flotte befohlen und amerikanische Handelsschiffe aus gefährdeten
Gebieten zurückberufen. Später wurden für Schiffe, die nach den Philippinen
gingen, Konvois angeordnet. Warnungen waren also eine Selbstverständlichkeit.
4. Wußte man im Dezember 1941, wann der Angriff erfolgen
wird? Präsident Roosevelt hatte mit seinen Ratgebern häufig besprochen,
daß die Japaner mit Vorliebe beim Morgengrauen an einem Sonntag angreifen. Der
6. Dezember war ein Samstag. Es war demgemäß zu erwarten, daß die
Kriegserklärung, von der die ersten Teile bereits am Nachmittag des 6. Dezember
vorlagen, am Sonntag, dem 7. Dezember, übergeben werden würde. Man hatte
bereits am ersten Sonntag nach dem 26. November einen japanischen Angriff
erwartet. Die japanische Vorliebe für Sonntagmorgen-Angriffe war auch in Pearl
Harbor bekannt. Am Morgen des 6. Dezember liefen beim Präsidenten mehrere
Nachrichten über japanische Truppenbewegungen im Südchinesischen Meer ein.
Gegen Mittag bemerkte Roosevelt zum Budgetdirektor Harold Smith, daß
die Vereinigten Staaten vielleicht bereits im Kriege mit Japan lägen, »although
no one knew«. Verschiedene Fragen bezüglich des automatischen Inkrafttretens
des mit England, Australien und Holland vereinbarten Kriegsplans wurden besprochen,
da durch das Vordringen der Japaner jenseits einer bestimmten geographischen
Linie bereits der im Plan vorgesehene casus belli eingetreten war. Am
Nachmittag verhandelte Roosevelt mit Lord Halifax, dem
britischen Botschafter, und mit dem australischen Gesandten Casey. Die
getroffenen Beschlüsse kümmern uns hier nicht - es handelt sich lediglich
darum, Roosevelts Kenntnis der drohenden Kriegsgefahr aufzuzeigen. Am
Abend, nach mehrfachem Umschreiben, sandte der Präsident ein Schreiben an den
Kaiser von Japan, in dem er von einer Lage von außerordentlicher Wichtigkeit
sprach und auf die »deep and far-reaching emergency which appears to be in
formation« hinwies. Roosevelt
schrieb diesen
Brief »for the record«. Er hielt somit den japanischen Angriff für
unmittelbar bevorstehend.
In den frühen Morgenstunden des 7. Dezember ging in
Washington der 14. Teil der japanischen Erklärung ein und ferner eine
zusätzliche Anweisung, die japanische Note müsse pünktlich um 13 Uhr
überreicht werden. Dies bedeutete mit größter Wahrscheinlichkeit, fast mit
Sicherheit, daß Japan etwa um 13 Uhr den Krieg beginnen werde.
Diese Nachricht war spätestens um 9 Uhr morgens beim Chef
der Marine und auch beim Präsidenten, die jedoch keine Warnung nach Hawaii
schickten. General Marsball, Chef des Heeresstabes, erschien erst um
11.25 Uhr - er war angeblich reiten und brauchte, nachdem man ihn bei seiner
Rückkehr telefonisch ins Büro gebeten hatte, eine Stunde, um dort aufzutauchen:
er hätte in 10 Minuten dort sein können. Hinzuzufügen ist, daß der Nachrichtendienst
beauftragt war, ihm zu allen Tages- und Nachtzeiten wichtige Nachrichten sofort
mitzuteilen und daß seine engsten Mitarbeiter, von denen die wichtigsten ein
paar Schritte von ihm wohnten, ebenfalls sofort zu benachrichtigen waren. Er
wußte also sicherlich von der bevorstehenden Kriegserklärung noch früher als
Präsident Roosevelt, und er muß davon am Abend des 6. Dezember erfahren
haben. Wenn er also, statt um 7 Uhr früh ins Amt zu eilen, auf Reitpfaden
verschwand, so wollte er sich nicht finden lassen. Warum wohl? Weil er sonst
eine Warnung hätte senden müssen.
Die Reitgeschichte samt der Ausspinnung, daß es nicht
möglich war, Marsball zu finden und ihn rasch in sein Büro zu holen, ist
jedoch nicht nur völlig unglaubwürdig - der pedantische und systematische
General würde sich nie so verhalten haben -, sie ist auch nachgewiesenermaßen
unwahr. Einer Zeugenaussage gemäß war General Marshall etwa um 9 Uhr morgens
im Amtszimmer des Admiral Stark, wo die Lage besprochen wurde.
Zweifellos wurde auch mit Roosevelt Kontakt aufgenommen. Einer zweiten
Zeugenaussage zufolge kam Marshall gegen 10 Uhr in seinem eigenen Büro
an und beschäftigte sich dort mit der laufenden Krise[218].
Er hätte also, wenn wir von früheren Warnungsmöglichkeiten absehen, um 9 Uhr
oder um 10 Uhr eine Warnung senden können. Seine fast nichtssagende
und keineswegs klare Depesche wurde aber erst um 12 Uhr mittags zum Chiffrieren
gegeben. Admiral Stark sandte überhaupt keine Warnung an den
Flottenkommandeur: Marshall hatte auf Anregung Starks den Armeekommandeur
in Hawaii beauftragt, die Warnung an die Flotte weiterzugeben was einen
weiteren Zeitverlust unumgänglich machte. Die Warnung wurde unter Umgehung der
militärischen Nachrichtenmittel und dazu noch ohne Priorität über die Western
Union und RCA nach Honolulu telegrafiert, wo sie viele Stunden nach dem
japanischen Angriff bei den Kommandostellen eintraf. Aber nehmen wir selbst das
Unwahrscheinlichste an und Marshall wäre wirklich erst um 11.25 Uhr
erschienen:
Wenn General Marshall um 11.25 Uhr telefoniert hätte,
so wäre binnen einer Viertelstunde die Verbindung hergestellt gewesen und es
hätte noch immer eine Warnzeit von einer Stunde und 20 Minuten zur Verfügung
gestanden. Ein Prioritäts-Radiogramm hätte mit Verschlüsselung weniger als eine
halbe Stunde gedauert[219].
Die Gründe, die der General später angab, warum er nicht zum Telefon griff,
sind viel zu fadenscheinig, als daß man sich mit ihnen auseinandersetzen
möchte. General Marshall konnte auf sicherem Wege nach Hawaii telefonieren,
und die Funkwarnung hätte über die Sender der Flotte und des FBI gefunkt werden
können, ohne daß man dafür die Western Union brauchte. (Der Heeressender konnte
angeblich an diesem Tage Hawaii nicht anpeilen.) Normalerweise hätte man eine
solche Warnung auf mehrfachem Wege durchgegeben.
5. Wußte man, wo der Angriff erfolgen wird? Japanische
Schiffe waren, wie gemeldet wurde, im westlichen Pazifik unterwegs. Viele
Nachrichten- und Planungsoffiziere waren überzeugt, der japanische Angriff
ginge gegen Malaya, Singapur und Niederländisch-Indien. Diese Angriffe fanden
tatsächlich statt, wie auch ein Angriff gegen die Philippinen, der nicht völlig
unerwartet kam. Es war bis zu einem gewissen Grade überraschend und verwirrend,
daß die Japaner an so vielen Stellen mehr oder weniger gleichzeitig zum Angriff
ansetzten: daß sie u. a. auf Täuschung abzielten, ist wohl klar.
Die dokumentarischen Belege zeigen, daß im allgemeinen ein
Angriff auf Pearl Harbor - oder die pazifische Flotte - nicht für sehr
wahrscheinlich gehalten wurde. In einigen Fällen wurde dieser sogar als
unwahrscheinlich angesehen. Die Logik, die dagegen sprach, war diese: 1. Die
Expansionsziele Japans lagen in Asien. 2. Japanische Kräfte operierten in
Asien. 3. Ein Angriff auf Pearl Harbor ist nur schwer durchzuführen. 4. Japan
wird nicht so ungeschickt sein, Amerika in den Krieg zu stoßen, um so weniger,
als es keine Siegeschancen besitzt. Gedankengänge dieser Art beeinflußten
einige Stellen in Washington und in Pearl Harbor, obwohl sie der klassischen
Doktrin des Seekriegs widersprachen. Es war jedoch von dem amerikanischen
Botschafter in Tokio bereits Anfang des Jahres 1941 gemeldet worden, daß die Japaner,
falls Krieg ausbrechen würde, einen Angriff auf Pearl Harbor planten[220].
Andere Nachrichten ähnlicher Natur waren ebenfalls eingetroffen. In den
üblichen Lageeinschätzungen seitens des Stabes der pazifischen Flotte wurde der
Luftangriff von Trägern, so wie die Japaner ihn tatsächlich durchführten, als
die wahrscheinlichste Art des Angriffs vorausgesagt[221].
Im Januar 1941 warnte Marineminister Knox den Kriegsminister Stimson
vor der Gefahr eines Luftangriffes auf Pearl Harbor[222]. Diese Möglichkeit
durfte also keineswegs übersehen werden.
Das Wesen der Überraschung besteht gerade darin, daß man das
Unerwartete unternimmt. Daher kann sich kein Generalstab auf Voraussagen und
Logik verlassen, sondern muß stets darauf vorbereitet sein, auf eine sich
entwickelnde Lage schnellstens reagieren zu können. In den ersten Dezembertagen
war klar, daß große Dinge bevorstanden, wenn man auch nicht genau wissen
konnte, was geschehen würde. Die Annahme, Japan werde gegen einen Verbündeten
der USA losschlagen, hatte die scheinbar stärkere Logik für sich. Die Nachrichten
zeigten zwar an, der Angriff werde auch gegen die USA erfolgen, aber man deutet
oft mit Hilfe von a-priori-Annahmen. Finten, Täuschungsmanöver und
falsche Nachrichten dienen dazu, die Verwirrung zu erhöhen. All dies ist
normal, und Generalstäbe sind daran gewöhnt. Daher verläßt man sich nicht auf
»estimates«, sondern auf handfeste Nachrichten, und man unterläßt es, wenn ein
Kriegsgefahrenzustand eintritt, nicht, den verantwortlichen Kommandeuren von
dieser Sachlage klar, deutlich und schnell Mitteilung zu machen und
entsprechende Befehle zu erteilen. Da man nie genau wissen kann, wo ein Angriff
erfolgen wird, war es insbesondere bei den immensen Entfernungen des Stillen
Ozeans nötig, bei drohender
Kriegsgefahr die erste Warnung an die pazifische Schlachtflotte ergehen zu lassen.
Nachrichtenmäßig war das Interesse der Japaner an der in
Pearl Harbor verankerten Flotte durch eine Berichtsserie über den
Kriegsschiffverkehr klar bekundet. Diese Serie war sowohl in Washington wie in
Pearl Harbor bekannt, ihre Bedeutung wurde jedoch an beiden Orten unterschätzt.
Der hierbei in Pearl Harbor begangene Fehler ist auf Mängel in den Marinenachrichtenstellen
in Hawaii zurückzuführen. Pearl Harbor mußte jedoch sowieso auf die eigene
Sicherheit bedacht sein: daher war für Pearl Harbor die Warnung bezüglich der Angriffszeit,
nicht aber unbedingt bezüglich des Angriffsziels von ausschlaggebender
Bedeutung. Washington hingegen war sowohl an der Zeit wie am Ziel interessiert,
nicht zuletzt, weil es als Zentrum des Nachrichteneingangs alle Außenposten
informieren mußte.
Am 6. Dezember wurde in Washington die sog. Kita-Depesche,
die am 3. Dezember von Honolulu nach Tokio gesandt wurde, entschlüsselt. Diese
Depesche legte Lichtsignale fest, die von den Inseln Oahu und Maui aus an der
Küste gelegenen Häusern in der Richtung aufs Meer abgestrahlt werden sollten:
die Lichtsignale (z. B. zwei brennende Lichter zwischen 2 und 3 Uhr morgens)
konnten von Unterseebooten aus beobachtet werden und sollten über etwaige
Veränderungen in letzter Minute im Kriegshafen, insbesondere über das Auslaufen
von Schlachtschiffen und Flugzeugträgern, berichten. Zusätzlich legte die
Depesche noch die Verwendung von Zeitungsannoncen für denselben Zweck fest. Die
Bedeutung war 1., daß es sich hier offenbar um eine wichtige
Angriffsvorbereitung gegen Pearl Harbor handelte, und 2., daß der Lichtkode
sich nur auf die Periode vom 1. bis 6. Dezember bezog. Die Depesche gab also
sowohl Angriffsziel wie auch Angriffszeit an. Eine Rohübersetzung der
dechiffrierten Depesche lag am Frühnachmittag des 6. Dezember vor. Obwohl sehr
zweifelhafte Zeugenaussagen über die Verwendung dieser Entschlüsselung
vorliegen, ist es als fast sicher anzunehmen, daß der Text in Rohübersetzung
sofort dem Marinestab bekanntgegeben wurde[223].
Daher muß dem Oberkommando in Washington Angriffsziel und Angriffszeit am
Abend des 6. Dezember bekannt gewesen sein, selbst wenn es zutrifft, daß die
Deutung aller Dechiffrierungen ungewiß bleibt. Am Morgen des 7. Dezember stand
die japanische Angriffsabsicht also fest. Ferner war an diesem Morgen bekannt,
daß die Kriegserklärung um 13 Uhr in Washington abzugeben war. (7.30 Uhr in
Hawaii, also etwa eine Stunde nach Sonnenaufgang. Da der Start der Flugzeuge
von den Trägern erst bei Dämmerung erfolgen konnte, schloß diese Zeitanweisung
einen ersten Angriff auf die Philippinen, die um 13 Uhr Washingtoner Zeit noch
in tiefster Dunkelheit lagen, aus.)
Die Bedeutung der Zeitanweisung war selbstverständlich den
Militärs völlig klar[224],
entsprach genau den Voraussagen von Präsident Roosevelt und wurde am
Sonntagmorgen, also am 7. Dezember, von Admiral Stark dem Präsidenten und dem Außenminister nochmals erläutert.
Selbst wenn daher aus diesem oder jenem Grunde eine frühere Warnung nicht
erfolgt war[225],
so hätte die entscheidende und ganz spezifische Warnung, wenn alles
vorschriftsmäßig vonstatten gegangen wäre, spätestens um 9 Uhr morgens, also
vier Stunden vor dem eigentlichen Angriff, durchgegeben werden müssen. Die
japanische Anweisung war aber bereits um 7 Uhr morgens dechiffriert. Daher
hätte eine Warnung bereits um etwa 7.30 Uhr gesandt werden können und wäre um 8
Uhr in Pearl Harbor gewesen: es konnten also fünf Stunden gewonnen werden.
6. Ist die Unterlassung der Warnung nicht einfach auf
Fahrlässigkeit zurückzuführen? Frau Wohlstetter schreibt, daß die
letzten Augenblicke des Wartens durch eine »merkwürdige Art von Betäubung
gekennzeichnet« waren. Dies war angesichts der langen Kette von Nachrichten
über die wachsende Gefahr durchaus verständlich, so meinte sie[226].
Sicherlich kann man viel mit Unfähigkeit, Unachtsamkeit oder sogar »Betäubung«
erklären. Wenn es sich aber darum handelt, daß zwei Dienstzweige, nämlich das
Heer und die Marine, gleichzeitig denselben Fehler begehen, so ist es recht
schwer, eine solche Erklärung anzunehmen. Dies ist auch deshalb undenkbar, da
alle betroffenen Offiziere das Problem verstanden und, wie bereits bemerkt, in
früheren Fällen rechtzeitig gehandelt hatten. Die Lage war zusehends schlimmer
geworden, und es war nunmehr so gut wie sicher, daß ein Angriff bevorstand. Daß
gerade unter diesen Umständen, die nach Entscheidungen drängten, in einer Lage,
auf welche diese Soldaten sich durch viele lange Jahre geistig und übungsmäßig
vorbereitet hatten, plötzlich alle einer »Betäubung« oder gar Lähmung verfallen
sein sollten, ist wohl eine der verblüffendsten »Erklärungen«, die man je
gehört hat. Vor lauter Betäubung ging General Marshall in der Wartezeit
reiten, Admiral Stark unterhielt sich über japanische Strategie, nachdem
er am Vorabend in der Operette weilte, und Präsident Roosevelt beschäftigte
sich mit seiner Briefmarkensammlung. Ganz so, wie man es sich in diesem Märchen
erzählt, kann es kaum gewesen sein.
Admiral Stark erklärte nach dem Kriege, er habe in
den fraglichen Stunden nur Befehle ausgeführt. In allen operativen Fragen
unterstand Stark nicht dem Marineminister, sondern dem Oberbefehlshaber,
Präsident Roosevelt. Diese Befehle müssen also von Roosevelt gekommen
sein. General Marshall hat sich über dieses Thema wohlweislich nicht
geäußert, aber da er es zustande brachte, sein Telegramm erst um 12 Uhr mittags
fertigzustellen, kann man daraus wohl schließen, daß er Befehl hatte, vor
diesem Zeitpunkt nicht zu warnen. Dies würde voraussetzen, daß er die letzten
Dechiffrierungen zwischen 7 und 8 Uhr morgens erhielt, wie dies zu erfolgen
hatte, Admiral Stark war General Marshall im Range ebenbürtig. Er
besprach die Lage mit Roosevelt noch in der Nacht vom 6. zum 7. Dezember
und er war frühmorgens in seinem Büro. Da die Marine im allgemeinen sehr
selbständig vorging und außerdem in Hawaii viel mehr zu verlieren hatte als die
Armee, bedurfte es eines klaren und
nachdrücklichen Befehls, um Stark davon zurückzuhalten mit Pearl Harbor
sozusagen spontan und reflexmäßig in Fühlung zu treten. Einer informierten
Zeugenaussage zufolge war es Stark anbefohlen worden, alle Warnungen und
Befehle durch Marshall übermitteln zu lassen. (Marshalls Warnung wurde auch nach den Philippinen gesandt, wo
die Belange des Heeres allerdings überwiegend waren.) Die Anordnung war
eindeutig diese: während der Krise des Kriegsbeginns sollte der Kontakt mit den
Kommandostellen im Stillen Ozean nur durch General Marshall aufgenommen
werden.
Zu diesem Befehl ist es folgendermaßen gekommen: Am 1.
Dezember kehrte Roosevelt überstürzt von einem kurzen Urlaub nach
Washington zurück: Außenminister Hull hatte ihm telefoniert, eine
kriegerische Rede des japanischen Premiers Tojo deutete an, der Angriff
würde unmittelbar bevorstehen. Nach seiner
Ankunft las Roosevelt am 2. Dezember eine dechiffrierte Depesche, durch die
Tokio den Chef der japanischen Spionage in den USA anwies, das Land sofort zu
verlassen. Ferner beauftragte Tokio in einer anderen Depesche die gefährdeten
japanischen diplomatischen Missionen und Konsulate, die Kodes und Geheimdokumente
zu vernichten. (Diese Anweisung erging auch an die japanischen Stellen in den
Vereinigten Staaten.) Schließlich wurde der japanische Botschafter in Berlin
angewiesen, der deutschen Regierung geheim mitzuteilen, ein Krieg zwischen
Japan und den angelsächsischen Ländern könne ganz plötzlich, und zwar viel
rascher, als man dies sich gemeinhin vorstelle, ausbrechen. Roosevelt ließ sich diese nach Berlin gesandte Depesche am 3. Dezember nochmals vorlegen.
Hawaii und die Philippinen wurden umgehend, wie dies der
militärischen Praxis entspricht, vom Marineministerium über die japanischen
Kodezerstörungen informiert.
Der Kommandeur des Asiatischen Geschwaders wurde beauftragt,
drei kleinere Handelsschiffe an der
südchinesischen und indochinesischen Küste zu stationieren, um die
japanischen Schiffsbewegungen im Chinesischen Meer und im Golf von Siam zu beobachten. Offenbar sollten diese
Schiffe als Köder dienen. Am 4. Dezember wurde der Kode der japanischen
Flotte außerhalb des Turnus gewechselt: unter den gegebenen Umständen war dies
ein Zeichen, daß die Schlacht bald beginnen würde.
Am gleichen Tage wies Roosevelt General Marshall an,
daß alle Warnungen an die pazifischen Kommandos durch ihn zu senden sind und
daß sich dieser Befehl auch auf die Flotte und Admiral Stark bezieht.
Demgemäß bestand Marshalls Aufgabe am Morgen des 7. Dezember zum Teil
darin, Admiral Stark nochmals auf diesen Befehl des Präsidenten festzulegen.
Stark soll sich angeblich sehr gesträubt haben.
Aber der Befehl des Präsidenten muß weiterreichend gewesen
sein: Marshall muß von Roosevelt den Befehl erhalten haben, keine
rechtzeitige Warnung zu senden. Wenn ein solcher Befehl nicht erfolgt wäre,
hätte es Marshall nicht vergessen
müssen, wo er sich am Abend des 6. Dezember befand und man hätte das Märchen
vom mehrstündigen Morgenritt, durch das ein Alibi für Marshalls angebliche Unkenntnis der letzten Nachrichten und
die verspätete Absendung der Warnung geschaffen wurde, nicht gebraucht.
Nach seiner Zeugenaussage vor dem
Untersuchungskomitee des Kongresses wurde General Marshall von einer
zuverlässigen Gewährsperson überhört, als er Senator Alben Barkley (später
Vizepräsident) mitteilte, er habe nicht die Wahrheit sagen können, da er sonst Roosevelts Andenken in Schwierigkeiten gebracht hätte[227].
7. Warum durfte die Warnung nicht rechtzeitig erfolgen? Dafür
gibt es einen sehr triftigen und ausschlaggebenden Grund. Es war durchaus
möglich, daß die Japaner unter allen Umständen angreifen würden[228].
Aber der Angriff auf Pearl Harbor war militärisch äußerst riskant. Sobald die
japanische Führung entdeckt hätte, daß die Überraschung mißglückt war, hätte
sie von dem Angriff absehen können. Wir wissen heute, daß der japanische
Nachrichtendienst ausführliche Vorbereitungen getroffen hatte, um
festzustellen, ob die amerikanische Flotte gewarnt worden war. Wir wissen
ferner, daß eine solche Information der anrückenden japanischen Flotte
unverzüglich mitgeteilt worden wäre. Eine Warnung hätte von den Japanern ohne
Fehl entdeckt werden müssen. Sobald die Warnung in Pearl Harbor eingetroffen
wäre, hätte das Kommando Offiziere und Mannschaften telefonisch zurückbeordert, jede Leitung wäre überbeansprucht gewesen, was sofort jedes
Telefonfräulein in Honolulu gewußt hätte, binnen weniger Minuten hätten
Automobile und Lastwagen die Straßen verstopft, große Veränderungen wären auf
den Schiffen vorgegangen, Rauch wäre aufgestiegen, Flugzeuge wären gestartet,
Sirenen hätten geheult - die Tatsache der Warnung wäre dem Kommandanten des
japanischen Geschwaders wahrscheinlich binnen fünf Minuten von Agenten mittels
Funk gemeldet worden. Die amerikanische Taktik mußte jedoch sein, die größte
Schwäche und Wehrlosigkeit an den Tag zu legen.
8. War die Strategie des zweiten Schusses noch gültig? Die
beiden japanischen Botschafter in Washington hatten eindeutige und unbedingte
Befehle erhalten und waren in einer nachfolgenden Depesche angewiesen worden,
die letzte in der Botschaft verbliebene Kode-Maschine und alle Kodes zu
zerstören. Die japanische Note konnte daher nicht mehr zurückgehalten, sondern
mußte unwiderruflich abgeliefert werden. Daraus ergab sich, daß, unabhängig
von dem ersten oder zweiten Schuß und sogar unabhängig von einem etwaigen
Unterlassen des japanischen Angriffes auf Pearl Harbor, Japan Amerika bereits
den erhofften Liebesdienst geleistet und die USA durch Kriegserklärung in den
Krieg gestoßen hatte. Die weitere
Durchführung der provokatorischen Strategie war daher überflüssig
geworden, und die Kosten und Risiken des ersten Schusses mußten nicht mehr von
Amerika getragen werden.
Damit ergab sich die Möglichkeit, der japanischen Flotte
aktiv entgegenzutreten, ihr Verluste zuzufügen und sie vielleicht sogar zu
besiegen - ein amerikanischer Anfangssieg hätte eine starke moralische Wirkung
ausüben können. Warum wurde also in letzter Minute die Strategie nicht geändert?
Dies ist das entscheidende Problem der Tragödie, das leider nie richtig
untersucht wurde, da man es vorzog, sich über die müßige Frage zu streiten, ob
die USA überhaupt eine provokative
Strategie verfolgten und ob dieses Vorgehen berechtigt war.
Zunächst muß die Zeitenfolge betrachtet werden. Die
Dechiffrierung der Depesche, die die Zerstörung der japanischen Kode-Maschine
anordnete, kam nach dem letzten Teil der langen Note an. Depesche Nr. 907
befahl Übergabe der Note um 13 Uhr mittags. Depeschen 908 und 909 waren
Dankesbezeugungen an die Diplomaten der japanischen Botschaft in Washington.
Nr. 910 ordnete die sofortige Zerstörung der Geheimdokumente und der Maschine
an. Die dechiffrierte Depesche stand also kaum vor 7.30 Uhr morgens zur Verfügung.
Angenommen, daß Marshall und Stark, entgegen den veröffentlichten
Angaben, sich bereits zu dieser Morgenstunde mit dem Material beschäftigten so
würde es einige Zeit gedauert haben, bevor sie die Bedeutung von Nr. 910
erkannten. Wenn sie diese Bedeutung gegen 8 Uhr verstanden, dann wäre es notwendig
gewesen, sich die Befehle zu überlegen, die zu geben waren, und für den neuen
Plan die Bewilligung des Präsidenten einzuholen. Dies mußte mindestens eine
halbe Stunde gedauert haben. Dann mußte ein klarer Befehl ausgeschrieben und
verschlüsselt werden, was ebenfalls mindestens eine halbe Stunde in Anspruch
genommen hätte. Es wäre also 9 Uhr gewesen. Eine frühere telefonische Besprechung
mit Pearl Harbor hätte stattfinden können, aber kaum vor 8.45 Uhr; selbst eine
Vorwarnung setzte die grundsätzliche Zustimmung des Präsidenten voraus.
Da aus Sicherheitsgründen die Befehle nicht telefonisch
erteilt werden durften, sondern durch ein verschlüsseltes Radiogramm
durchzugeben waren, konnte der Befehl erst etwa um 9.30 Uhr in Pearl Harbor
vorliegen. Die Flotte konnte also nicht vor 12.30 Uhr auslaufen oder wenn der
einfache Befehl zum Auslaufen bereits telefonisch gegeben worden wäre,
frühestens um 11.45 Uhr. Es wäre aber durchaus möglich gewesen, daß die Japaner
bereits um 12.30 Uhr angriffen. In diesem Falle wäre die Flotte zu einem
besonders ungünstigen Augenblick unter Feuer gekommen.
Die verfügbare Zeit war also außergewöhnlich kurz. Wenn nur
die geringste Verzögerung eingetreten wäre, dann hätte die Zeit einfach nicht
ausgereicht. »Ordre-contr'ordre-desordre.« Die Führungsspitzen in Washington
waren mit diesem Ausspruch Napoleons sehr vertraut. Das völlige Umwerfen eines
militärischen Planes in letzter Minute ist stets höchst riskant. Da man in
Pearl Harbor von einem plötzlichen Befehl zum Auslaufen völlig überrascht
worden wäre, war eine derartige Änderung des Planes einfach unratsam.
Das Improvisieren eines Planes ist aber nicht nur aus
organisatorischen Gründen und weil sich viel Unvorhergesehenes ereignen kann,
fast immer unzweckmäßig, sondern vor allem deshalb, weil man keineswegs genug
Zeit hat, um das Problem durchzudenken und den neuen Plan zu prüfen. Der Plan,
der im Dezember 1941 angewandt wurde, war mindestens seit Juni 1940 im Werden
gewesen. Am 26. Juni 1940 konzipierte General Marshall einen Brief an
den Armee-Befehlshaber in Pearl Harbor. Er besprach die Möglichkeit, die
pazifische Flotte gegen Westen auslaufen zu lassen, um scheinbar einen Druck
auf die europäischen Achsenmächte auszuüben. Dies würde die Japaner zu einem
Angriff auf Oahu veranlassen, um die Amerikaner zu zwingen, die pazifische
Flotte zurückzurufen. Marshall nahm an, daß die Japaner ein solches
Unternehmen wagen würden, um der deutschen und italienischen Flotte zu helfen
und um amerikanische Marine-Unterstützung
an England zu verhindern[229].
Der Brief, der die für uns wichtige Denkweise des Generals darlegt, wurde nie
abgesandt. Ferner wurden, wie wir besprochen haben, die Probleme des ersten
Schusses während der Atlantischen Konferenz vom 9. bis 13. August 1941
wahrscheinlich mit den Engländern beraten[230]. Die Strategie gegen
die Japaner war also seit langem durchdacht und sicherlich in allen
Einzelheiten geprüft worden. Daß plötzlich diese Strategie nicht mehr nötig
sein werde, weil die Japaner irgendwo angreifen und Amerika den Krieg
erklären, wurde sicherlich berücksichtigt, aber die besonderen Umstände, die
während der paar Stunden am 7. Dezember 1941 herrschten, konnten kaum
vorhergesehen werden. Demgemäß konnte man nur improvisieren, und dies war
eindeutig nicht empfehlenswert.
Die Möglichkeit einer Planänderung mag besprochen
worden sein. Aber kurze Überlegungen würden gezeigt haben, daß es besser war,
alles beim alten zu lassen. Am 21. Januar 1941 war der Flottenbefehlshaber in
Pearl Harbor unterrichtet worden, die Mobilmachung der pazifischen Flotte
würde im Falle eines bevorstehenden Krieges sofort angeordnet werden. Dies
bedeutete insbesondere, daß die Kriegsschiffe auf vollen Mannschaftsstand
gebracht werden würden. Die Mobilmachung war nicht angeordnet worden[231],
daher war der Mannschaftsstand nicht vollzählig, und die Flotte besaß keine
volle Gefechtsfähigkeit. Ferner befanden sich keine Flugzeugträger in Pearl
Harbor - die Träger waren laut Befehl Washingtons vom 27. November auf hoher
See und beförderten Flugzeuge nach den Inseln Midway und Wake. (Ein Träger war
im Dock.) Ohne Flugzeugträger wäre aber die pazifische Flotte auf hoher See
gegen das japanische Angriffsgeschwader, das mit absoluter Sicherheit vornehmlich
aus Trägern bestand, wehrlos gewesen.
Es gab noch viele zusätzliche Gründe. Da nicht genügend
Aufklärungsflugzeuge in Hawaii vorhanden waren, stand nicht fest, ob die
japanische Flotte rechtzeitig gefunden werden konnte, um einen vorbeugenden
Schlag auszuführen. Außerdem genügte für eine solche Unternehmung die Zahl der
einsetzbaren Bomber in keiner Weise. Schließlich war noch zu bedenken, daß die
pazifische Flotte unter den gegebenen Umständen Verluste nicht hätte vermeiden
können. Schiffe, die auf hoher See versenkt werden, sind endgültig verloren.
Hingegen vermag man Schiffe, die im flachen Wasser eines Hafens »versenkt«
werden, zu heben, zu reparieren und wieder einzusetzen. Von den acht in Pearl
Harbor angegriffenen Schlachtschiffen wurden bloß zwei endgültig kampfunfähig
gemacht, drei erlitten nur geringen Schaden, und drei wurden versenkt, aber
wieder gehoben und später erneut gegen den Feind eingesetzt. Der wesentliche
Verlust in Pearl Harbor betraf die Mannschaften, nicht die Schiffe. Die von mir
angenommene hypothetische, bewußte Entscheidung, den Plan in letzter
Minute nicht zu ändern, sondern die Flotte im Hafen zu
halten, muß daher, so hart das auch klingen mag, als militärisch berechtigt
angesehen werden.
Fraglicher ist, warum nicht gewarnt wurde, um wenigstens die
Abwehrfähigkeit der Flotte und der Lufteinheiten zu erhöhen. Dies ist weniger
leicht zu erklären. Aber vermutlich ergab sich dieser Beschluß aus der
Entscheidung, beim ursprünglichen Plan zu bleiben und unter allen Umständen zu
vermeiden, die Japaner wissen zu lassen, daß man von dem bevorstehenden Angriff
wußte. Dies war logisch, da ja dem amerikanischen Nachrichtendienst nicht
bekannt war, ob alle japanischen Anweisungen aufgefangen worden waren und man
die Befehle unter denen der japanische Flottenkommandeur operierte, nicht
kannte. Rückblickend ist es nicht schwer, sich die Befehle vorzustellen, die
nach Pearl Harbor hätten geschickt werden sollen. Die Befehlshaber hätten
gewarnt werden müssen. Es war ihnen zu befehlen, keinen Alarm zu schlagen und
die Flotte nicht auslaufen zu lassen. Die Aufklärungsflugzeuge hätten kurz vor
Morgengrauen aufsteigen sollen, um die Japaner zu finden. Alle Radar-Geräte
waren zu bemannen. Die gesamte Flak war in Bereitschaft zu setzen. Alle Kriegsschiffe,
Jagdflugzeuge und Bomber waren auf die Schlacht vorzubereiten. Sobald die anfliegenden
japanischen Bomber vom Radar gesichtet wurden, sollten die Bomber aufsteigen,
um die japanische Flotte anzugreifen. Gleichzeitig hätten die Sirenen die
gesamte Bevölkerung zu warnen, und die Jäger hätten die japanischen Bomber
innerhalb der Dreimeilenzone angreifen sollen. Durch Anordnungen dieser Art
hätten zwar Schäden und Verluste nicht verhindert werden können, aber der japanische
Angriff wäre nicht übermäßig erfolgreich gewesen, und es hätte eine gute
Chance bestanden, den Japanern erhebliche Verluste zuzufügen. Falls die
Überraschung mißglückt wäre, hätte eine solche Niederlage auf die gesamte
Weltlage einen großen Einfluß ausgeübt und vielleicht den Krieg verkürzt.
Diese hypothetischen Gegenmaßnahmen wären durchführbar
gewesen, ohne den allgemeinen Provokationsplan zu gefährden. Befehle dieser Art
hätten Marshall und Stark einfallen können, wenn diese nicht zu
sehr mit der Aufgabe beschäftigt gewesen wären, ihre Spuren zu verwischen und
die öffentliche Meinung zu einigen.
Man darf aber niemals vergessen: keine großangelegte,
komplizierte Strategie kann je fehlerfrei ausgeführt werden. Mißgeschicke und
Fehlanordnungen sind nicht zu vermeiden. Die Tatsache, daß es unterlassen
wurde, an jenem Sonntagmorgen neue Befehle zu erteilen, die einen
amerikanischen Abwehrsieg ermöglicht hätten, ist als strategische Schuld zu
bezeichnen. Vielleicht hätte die damalige Situation vorhergesehen werden
sollen, so daß Improvisationen nicht nötig gewesen wären. Falls aber die
entstandene Lage nicht schon vorher in Betracht gezogen worden war und man vor
die Wahl gestellt war, entweder zu improvisieren oder den Dingen ihren vorher
geplanten Lauf zu lassen, so war der Beschluß, nichts zu unternehmen, so hart
dies auch klingen mag, berechtigt. Es liegt im Wesen eines jeden
Schlachtplans, daß u. U. eigene Truppen, Bürger, Waffen und Gebiete geopfert
werden müssen.
Die Analyse ergibt folgendes: Vielleicht erscheint die
Annahme, daß der Angriff auf Pearl Harbor seitens der Vereinigten Staaten von
Anfang an provoziert wurde, nicht sehr glaubhaft, da sie eine
außergewöhnliche Planungsfähigkeit voraussetzt und sich außerdem die Dinge nie
planmäßig entwickeln. Aber es ist keineswegs nötig, eine so weitgesteckte These
anzunehmen: vielleicht lassen sich tatsächlich alle Vorgänge bis zum 5.
Dezember zwanglos durch Verwirrung und Unfähigkeit erklären.
Am Nachmittag des 6. Dezember war jedoch in Washington
eindeutig bekannt, daß ein japanischer Angriff bevorstand. Spätestens am 7.
Dezember um 9 Uhr morgens wußte man, daß der Angriff gegen Pearl Harbor
gerichtet sein würde. Die Provokation braucht daher nur in dem einzigen
Entschluß bestanden zu haben, diese beiden Nachrichten nicht an Pearl Harbor zu
übermitteln und der pazifischen Flotte, den Truppen und Lufteinheiten auf
Hawaii keine der Angriffsgefahr entsprechenden Befehle zu erteilen.
Man hat auch diese schwerwiegende Unterlassung durch
Unfähigkeit zu erklären versucht, aber diese Erklärung ist nicht stichhaltig.
Ein Naval Court of Inquiry, der 1944 tagte, sprach Admiral Kimmel,
den Befehlshaber der pazifischen Flotte zur Zeit von Pearl Harbor, von den
gegen ihn gerichteten Anschuldigungen frei und kritisierte Admiral Stark, den
Chef der Marine, der es unterlassen hatte, in der Zeit vom 26. November bis zum
7. Dezember 1941 die erforderlichen Nachrichten zu übermitteln. Der Court
stellte auch fest: es war am Morgen des 7. Dezember klar gewesen, daß der Abbruch
der diplomatischen Beziehungen bevorstand; ferner hätte induktiv und deduktiv
geschlossen werden können, daß ein baldiger Angriff gegen Hawaii zu erwarten
war[232].
Admiral King, der Nachfolger Starks und einer
der besten amerikanischen Offiziere während des Zweiten Weltkrieges, verwarf
den Befund des Naval Court. Er hatte jedoch, wie er loyalerweise zugab, die
Akten nicht gelesen. Am 14. Juli 1948 gab er offiziell bekannt, daß er seine
frühere Entscheidung zurücknehme und nunmehr dem Befund des Naval Court zustimme[233].
Viele andere führende Admirale, z. B. Admiral Halsey, der unter Kimmel
in Pearl Harbor diente und am 7. Dezember auf einem Träger zur See war,
sprachen Kimmel ebenfalls von Schuld frei. Also: Normalerweise hätte Stark
warnen und neue Anordnungen treffen müssen. Hierbei wird allerdings nicht
klar, daß auch Admiral Stark keine Schuld traf, da er auf Befehl Roosevelts
handelte. Gleichzeitig tagte ein Army Pearl Harbor Board of Investigation,
der sich über die Handlungsweise von General Marshall äußerst kritisch
äußerte, ohne dabei die Frage untersuchen zu dürfen, ob Marshall selbständig
handelte oder Befehle Roosevelts ausführte[234].
Der Befund dieses Boards wurde von Kriegsminister Stimson abgelehnt, der damit unter Umgehung einer
rechtlich erforderlichen Beurteilung seitens des Judge Advocate General, sich
selbst und General Marsball freisprach. Vielleicht sollte man auch Stimson
nicht zu hart beurteilen: Marshall war ja in der Tat unschuldig,
ganz davon zu schweigen, daß die von ihm durchgeführte Strategie das erwünschte
Ergebnis zeitigte. Aber es war ungerecht, die Kommandeure von Pearl Harbor
nicht zu rehabilitieren, insbesondere da die von Washington übermittelte
Lageeinschätzung irreführend war und keine Warnung über die voraussichtliche
Angriffszeit vermittelt wurde.
Allerdings darf man die Befehlshaber von Hawaii nicht völlig
von militärischer Schuld freisprechen: 1. In Hawaii lagen genügend Nachrichten
vor, um die Bedrohlichkeit der Lage zu erkennen und um alle normalen
Vorsichtsmaßregeln gegen Schlendrian zu treffen.
2. Daß ausgerechnet
kurz vor dem Angriff die Radarstation auf Sonntagsferien ging und der vor
Schließung entdeckte Anflug zahlreicher Flugzeuge nicht gemeldet wurde, war
unverzeihlich[235]. 3. Um 3.42 Uhr morgens
wurde von einem Minensucher beim Hafeneingang ein Periskop gesichtet; darauf
suchte der Zerstörer Ward das U-Boot etwa 3 Stunden lang, ohne dies zu
melden. Die Signale, die zwischen dem Minensucher und der Ward ausgetauscht
wurden, hätten im Communications Office des 14. Naval District aufgefangen
werden sollen, aber der Wachoffizier schlief. Um 6.33 Uhr wurde ein U-Boot aus
der Luft gesichtet und seine Position mit Rauchkerzen markiert; danach wurde
das U-Boot von der Ward versenkt und um 6.54 Uhr Meldung erstattet. Die
Meldung wurde erst um 7.17 Uhr entschlüsselt, aber dann sofort weitergegeben.
Der japanische Bombenangriff begann um 7.55 Uhr, bevor irgendwelche
Sicherungsmaßnahmen getroffen worden waren[236]. Der Army Board fand,
daß die eingegangenen Nachrichten in Washington am 6. Dezember um 21 Uhr Oberst
Walter Bedell Smith, Sekretär des Generalstabs, in einer verschlossenen
Aktentasche übergeben wurden, und zwar mit der Mitteilung, daß »a vitally
important message« vorlag. Diese Tasche mußte nach den Vorschriften General Marshall
sofort ausgehändigt werden, was jedoch nicht geschah. (Dies ist mehr als
zweifelhaft. Smith war später der Hauptplaner General Eisenhowers, Botschafter
in Moskau und Chef der Central Intelligence Agency. Man kann sich also völlig
darauf verlassen, daß sich Smith, der übrigens, wie auch Marshall, berühmt dafür war,
immer genau nach Vorschrift zu handeln, damals keine Unachtsamkeit zuschulden
kommen ließ.) Marshall, so urteilte der Board weiter, hätte Hawaii
bereits am 6. Dezember und wiederum am 7. Dezember unterrichten oder
entsprechende Befehle erteilen müssen[237]. Das Radiogramm, das
General Marshall in letzter Stunde nach Pearl Harbor sandte, hätte, den
Regeln gemäß, gleichzeitig über den Marine- und den FBI-Sender und über das
»scrambler«-Telefon[238]
weitergegeben werden müssen.
Die militärischen Ausschüsse, denen es nicht gestattet war,
die Tätigkeit der Minister und des Präsidenten zu untersuchen, nahmen keine der
zur Bemäntelung vorgebrachten Alibi-Erklärungen als berechtigt an. Die
Nachrichten besagten, Krieg stand bevor; genug Nachrichten waren vorhanden, um
mit hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusagen, ein japanischer Angriff werde etwa
um 13 Uhr mittags Washingtoner Zeit gegen Pearl Harbor gerichtet werden; es war
möglich, diese Warnung etwa 4 Stunden vor dem Angriff durchzugeben; eine solche
Warnung, zusammen mit entsprechenden Befehlen, hätte erteilt und auf mehrfachem
Wege schnellstens durchgegeben werden müssen. Dies ist der bewiesene
Grundtatbestand, den es zu erklären gilt.
Roberta Wohlstetter, die sich, wie bereits bemerkt,
bemüht, alles auf Unachtsamkeit und auf die ungenügende Organisation des
Nachrichtendienstes zurückzuführen, behauptete, daß die eingetroffenen
Nachrichten, weil viele Widersprüche und falsche Einschätzungen vorlagen, zwar
Gefahr anzeigten, aber trotz allem nicht genügend klar waren, um Maßnahmen zu
erfordern. Diese These ist unhaltbar. Noch nie war ein Nachrichtenbild von Widersprüchen
frei, kaum jemals aber war ein Nachrichtenbild so klar wie im Dezember 1941.
Die Untersuchungskommissionen der Marine und des Heeres haben die Frage
sachlicher und fachmännischer beurteilt. Aber selbst Frau Wohlstetter fügte
hinzu, daß die »fundamentale Passivität«, die die Handlungen in Washington
kennzeichnete, auf die »avowed policy that the United States could not strike
the first blow«, zurückgeführt werden müsse. Während dieses letzten Weekends
war es die »compelling consideration« des Weißen Hauses, wie man am besten
innerhalb der vom Kongreß und der Verfassung vorgezeichneten Grenzen handeln
konnte und wie die amerikanische öffentliche Meinung zu beeinflussen war. Diese
Fragen der Innenpolitik waren ausschlaggebend[239].
Mit dieser Deutung, warum man sich in Washington »passiv« verhielt, anstatt zu
handeln, bestätigte Frau Wohlstetter, daß es sich um eine
provokatorische Strategie handelte, welche aus der innenpolitischen Zwangslage
erwuchs. Einsichten, zu denen man wider den eigenen Willen kommt, muß eine
besondere Überzeugungskraft zugeschrieben werden.
Trotz allem stößt man immer wieder auf Zweifel, ob nicht das
Risiko einer provokativen Strategie viel zu groß war? Es handelte sich
zweifellos um ein kühnes Unterfangen.
Aber man hatte, wie bereits bemerkt, wahrscheinlich mit einem geringeren
japanischen Erfolg gerechnet, da man glaubte, ein Torpedoangriff könne nicht
wirksam sein. Sicherlich erwartete man Schäden und vielleicht sogar den
Verlust der Schlachtschiffe. Es handelte sich aber ausschließlich um alte
Schlachtschiffe. Neue Schlachtschiffe waren bereits in großer Zahl im Bau.
Ferner wußte man unter den Eingeweihten, daß Schlachtschiffe viel von ihrer
Bedeutung eingebüßt hatten. Entscheidend war, daß nicht ein einziger
Flugzeugträger im Hafen lag. Am 28. November stach Admiral Halsey mit
einem Träger, drei schweren Kreuzern und neun Zerstörern in See. Am 5. Dezember
verließen ein weiterer Träger, drei schwere Kreuzer und fünf Zerstörer Hawaii.
Am gleichen Tag fuhr noch ein drittes Geschwader aus, dessen Zusammensetzung
mir unbekannt ist; es muß sich auch in diesem Fall um einige Kreuzer und Zerstörer gehandelt haben. Diese
Unternehmungen waren von Washington angeordnet worden[240]. Daß in der Tat der amerikanischen Flotte
nicht allzuviel geschah, geht auch daraus hervor, daß binnen eines halben
Jahres die Japaner in zwei großen
Seeschlachten besiegt wurden[241]. Insgesamt betrugen die Verluste 3481 Mann, darunter 2403 Tote;
ein Drittel der Verluste erfolgte auf dem Schlachtschiff Arizona.
Die Ereignisse von Pearl Harbor wurden nicht weniger als
neunmal untersucht. Die wichtigste dieser Untersuchungen wurde von einem Joint
Committee des Kongresses durchgeführt, dessen Sitzungen, dokumentarische
Unterlagen und Befunde in einem vielbändigen Werk veröffentlicht wurden. Keine
dieser Untersuchungen, mit der teilweisen Ausnahme der oben zitierten
Untersuchungen des Naval Court und des Army Board, wurde einwandfrei geführt,
und in zahlreichen Fällen blieben die aus der amerikanischen Jurisprudenz
bekannten Regeln der Beweisaufnahme und der Rechte der Angeklagten[242] unbeachtet. Wesentliche Dokumente konnten
nicht gefunden werden; ganze Serien von Dokumenten wurden nie freigegeben;
viele strittige Punkte blieben unaufgeklärt; wichtige Zeugen wechselten ihre
Aussagen von einer Untersuchung zur nächsten, andere hatten erstaunliche
Gedächtnislücken, und wieder andere antworteten
so ausweichend, daß man in einigen Fällen wohl sagen muß, sie hielten es
mit der Wahrheit nicht sehr genau.
Die Mitglieder der Untersuchungskommissionen waren
sorgfältig ausgewählt, so daß nichts zu befürchten stand; in einem Fall wurde
ein Offizier, der an den entscheidenden
Beschlüssen in Washington teilgenommen hatte, der Kommission beigefügt.
Mit anderen Worten: man verfolgte die altbekannte Methode, den Bock zum Gärtner
zu machen.
Es ist ziemlich offenkundig, daß einige Zeugen
eingeschüchtert wurden oder jedenfalls eingeschüchtert waren. Den militärischen
Zeugen war bewußt, daß Beförderungen, Versetzungen und Auszeichnungen erheblich
von ihrer Einstellung zu den Vorkommnissen von Pearl Harbor abhingen.
Andererseits gab es aber auch Zeugen, die
ihre Zivilcourage voll unter Beweis stellten. Bei der Untersuchung im
Kongreß war es nicht möglich, die Opposition auszuschalten, aber diese
Opposition war in der Minderheit. Zweifellos wäre es bei einer Untersuchung
dieser Art zweckmäßig gewesen, den Ausschuß zur Hälfte aus Demokraten und zur
anderen Hälfte aus Republikanern zu bilden. Dies mag bestritten werden, aber es
war unvertretbar, daß ein Forschungsstab lediglich für die Demokraten genehmigt
wurde, welcher die Dokumente beschaffte und durcharbeitete und die Befragung
der Zeugen vorbereitete. Die Republikaner wären fast völlig machtlos gewesen,
wenn nicht einer ihrer Senatoren bereit gewesen
wäre, wenigstens einen Sachverständigen aus eigener Tasche zu bezahlen. Jeder
Untersuchungsausschuß im Kongreß hat einen »Counsel«, der als erfahrener
Jurist die Untersuchungen leitet und Zeugen befragt. Dieser Counsel wird von
der Mehrheit bestimmt[243].
Der mit Sorgfalt ausgesuchte erste Counsel des Pearl Harbor Joint Committee[244]
demissionierte, sobald ihm klar wurde, daß nicht alles mit rechten Dingen
zuging.
Trotz dieser Mangel gelang es der Opposition, viel
aufzudecken und Vertuschungsmanöver zu verhindern. Das von dem Joint Committee
zutage geförderte Material ist ungeheuer reich und erlaubt mehr oder weniger
abschließende Urteile. Bevor man sich
außerhalb der Vereinigten Staaten über diese und andere Untersuchungen
des Kongresses allzu sehr den Mund zerreißt, wäre es zu empfehlen, daß die
Kritiker zuvor die Materialien durcharbeiten. Die Untersuchungen des
Pearl-Harbor-Ausschusses füllen 40 Bände und vier Zusatzbände. Es ist lehrreich,
diese Arbeit z. B. mit den Untersuchungen, insbesondere den Zeugenbefragungen des Reichstagsausschusses über die
Ursachen des Ersten Weltkrieges zu vergleichen. Wer solche Vergleiche
anstellt, wird bald entdecken, daß die Amerikaner erheblich ehrlicher als
andere Völker an die Probleme ihrer Geschichte herangehen.
Die Vereinigten Staaten besitzen weder eine Dynastie noch
Diktatoren, die sich die Geschichte nach
Maß bestellen können, aber die einzelnen Präsidenten haben ihre Jünger.
Die Geheimhaltung seitens der Ministerien sowie die Bereitwilligkeit, dieses
oder jenes Dokument freizugeben, es aber dann doch nur freundlich eingestellten
Forschern zu zeigen, werden oft genug in den Dienst der systematischen
Legendenbildung gestellt. Die Bürokraten, welche über Geheimhaltung oder
Veröffentlichung von Dokumenten entscheiden, die Archivare, die Zeugen und auch
die Historiker handeln meistens, wenn auch nicht immer, in gutem Glauben:
Einerseits halten sie ganz spontan an einer Deutung der Ereignisse fest, wie
diese ihnen »plausibel« erscheint - und die Deutung erscheint plausibel, weil
man sie von Anfang an geglaubt hat. Andererseits steht man neuen
Forschungsentdeckungen skeptisch gegenüber, weil diese unerwartet sind und
vermeintlich dem guten Ansehen des Landes oder eines Präsidenten schaden
können. Derartige Befürchtungen sind jedoch meistens grundlos. Wenn sich
verantwortungsbewußte Staatsmänner gezwungen sehen, Entscheidungen zu treffen,
die aus dem Rahmen des Gesangbuches herausfallen, so soll man, bevor man
sich dem Entsetzen und der Entrüstung hingibt, zuvor den Sinn und die Gründe
dieser Beschlüsse prüfen. Es wird sich dann häufig herausstellen, daß die
fraglichen Maßnahmen unvermeidlich erschienen und daß keine wirksamen
Alternativlösungen zur Verfügung standen. Diese Art der Betrachtungsweise
widerstrebt jenen, die Geschichte nicht als das Studium dessen, was geschehen
ist, auffassen, sondern festlegen wollen, was hätte geschehen sollen und die demgemäß die dramatis personae mit
Vorliebe in brave und böse Buben einteilen. Was die »Hof-Historiker« der
Demokratischen Partei betrifft, die Pearl Harbor im Sinne der »fable convenue«
behandelt wissen wollen, so ist es nicht weiter
bemerkenswert, daß dieser Stamm noch nicht ausgestorben ist. Ja, Hofschranzen
gibt es auch in der Neuen Welt.
Viele dieser Hof-Historiker, das soll jedoch nicht vergessen
werden, unterlagen in der einen oder anderen Form der Zensur; andere besaßen
keine persönlichen Erfahrungen mit der Methodik strategischer Entscheidungen
oder mit Krisensituationen in Generalstäben; und die meisten sind mit der
Denkweise und der Technik des Nachrichtendienstes und den Reaktionen
hochgestellter Planungs-Offiziere nicht vertraut. Nur so lassen sich Deutungen
wie die, daß die Unterlassung einer rechtzeitigen Warnung an Honolulu auf
»Betäubung« zurückzuführen sei, erklären.
Die sogenannte
revisionistische Schule ist jedoch ebenfalls kein Muster, das man zukünftigen
Historikern zur Nachahmung empfehlen könnte. Die Probleme werden dort nicht wertfrei
untersucht, sondern Betrachtungen über die amerikanische Verfassung,
ideologische Vorstellungen über die Einzigartigkeit der Vereinigten Staaten
und grundsätzliche, oft verschwiegene Annahmen pazifistischer Natur trüben die
Einsicht in die Zusammenhänge.
Genau wie die Hof-Historiker gefühlsmäßig für Wilson und
später für Roosevelt eingestellt waren, so sind die Revisionisten gegen
diese beiden Präsidenten. Wie auf der einen Seite Liebe, so herrscht auf der
anderen Seite Haß. Wie im Sinne der Ersten alles richtig gemacht wurde, so
sehen die Zweiten nur Fehler oder gar Verbrechen. Noch wichtiger ist, daß es
den Revisionisten meistens an Verständnis für den internationalen Machtkampf
gebricht. Der Machtkampf oder gar ein Weltkrieg erscheint ihnen als etwas, aus
dem sich die Vereinigten Staaten, wenn nur der Präsident nicht selber
machthungrig ist und bösartige Ziele verfolgt, durchaus herauszuhalten
vermögen. Wenn die Japaner von einer Eroberung zur nächsten schreiten oder
selbst ganz China einstecken, so beeindruckt dies den normalen Revisionisten
nur wenig - es leben ja kaum Amerikaner in China. Die etwas einsichtigeren
Revisionisten argumentieren, es wäre besser gewesen, wenn statt der Kommunisten
die Japaner China genommen hätten; das Endergebnis zeige, daß die amerikanische
Strategie vollständig verfehlt war. Auch ich neige dazu, die Japaner den
Kommunisten vorzuziehen, aber ich kann mich deshalb nicht der Ansicht
anschließen, daß der Fall Chinas und die Fortführung der japanischen Expansion
dem Weltfrieden genützt hätte. Die wichtige Feststellung, so scheint mir, ist,
daß, abgesehen von allen Machtinteressen, China ein Recht auf Selbstbestimmung
und Unabhängigkeit besitzt und daß, solange diese Rechte, von welcher Seite
auch immer bedroht bleiben, der Konflikt nicht zu Ende kommen kann. Diese Regel
gilt für alle Nationen, wäre also auch auf
Japan anzuwenden, falls dieses angegriffen würde. Ferner lag es im amerikanischen
Nationalinteresse wie auch im Nationalinteresse anderer Staaten, die
endgültige Eroberung Chinas durch Japan zu verhindern. Ebenso lag es aber auch im amerikanischen Nationalinteresse wie auch im Interesse
vieler anderer Staaten, die Eroberung Chinas durch den Kommunismus zu
verhindern. Daher war nicht die Strategie falsch, die zu Pearl Harbor führte,
sondern die spätere Strategie, die den chinesischen Kommunisten zum Sieg
verhalf.
Die Revisionisten haben auch selten ein Gefühl dafür, daß
häufig falsche Nachrichten und
Einschätzungen vorliegen, Desorganisation eine wichtige Rolle spielt, nicht
alles planmäßig vor sich geht und einfach Fehler begangen werden. Die
Hof-Historiker können jedoch ihrerseits unmöglich Präsident Roosevelt und
General Marshall als große Strategen, die nach Dezember 1941 ihre
Fähigkeiten bewiesen haben, preisen, und gleichzeitig Pearl Harbor durch Organisationsmängel,
Unverständnis, Irrtümer und Fahrlässigkeit erklären, um so weniger, als sich an
der Organisation, die am 7. Dezember 1941 bestand, sehr wenig änderte und die
Washingtoner Akteure von Pearl Harbor in den höchsten Positionen blieben oder
in diese aufstiegen.
Die Revisionisten haben ebenfalls Unrecht, wenn sie alle
»Schuld« auf Washington schieben und das Marine- und Heereskommando in
Honolulu völlig freisprechen. Sicherlich wurden die Kommandeure von Pearl
Harbor als Sündenböcke mißbraucht, aber es
gab Nachrichtendienste auch in Hawaii, und diese wurden keineswegs
wirksam verwendet. Diese Nachrichtendienste wußten, daß japanische Agenten
plötzlich aktiv wurden, daß die japanische Flotte ihre »call signs«
überraschend gewechselt hatte, daß der Standort der japanischen Träger nicht
erkennbar war, daß die Japaner in großer Anzahl nach Japan zurückkehrten und
daß das Generalkonsulat in Honolulu Dokumente vernichtete. Die Frage, ob es
bald zu einem amerikanisch-japanischen Krieg kommen werde, wurde in der
amerikanischen Presse in extenso besprochen, und eine Kriegswarnung
allgemeiner Art wurde am 27. November 1941 dem pazifischen Flottenkommandeur
telegrafiert. Diese Warnung hielt einen Angriff auf die Philippinen, Thailand,
den Isthmus von Kra oder auf Borneo für möglich und ordnete Vorbereitungen für
eine offensive Verwendung der Flotte an (also nicht für eine Verteidigung im
Stützpunkt). Noch am 24. November wurde ein japanischer Vorstoß »in any
direction« für möglich gehalten, daher schien auf Grund neuerer Nachrichten die
Mitteilung vom 27. November, Pearl Harbor als Ziel auszuschließen. Aber
schließlich hatte man ja in Pearl Harbor viel über die Gefährdung der
pazifischen Flotte nachgedacht und oft genug auf die strategische Bedeutung von
Hawaii hingewiesen. Die japanische Vorliebe für Angriffe am Sonntagmorgen war
in Honolulu genauso bekannt wie in Washington. In Pearl Harbor wurden Maßnahmen
gegen Sabotage getroffen und über diese Maßnahmen nach Washington Meldung
erstattet; Washington ordnete keine weitergehende Sicherungsmaßnahmen an, gab
sich also mit den lokal erteilten Befehlen zufrieden. Die Kommandeure in
Honolulu mußten jedoch wissen, daß Sabotage ein sehr beschränktes Kampfmittel
darstellt und daß man durch Sabotage einer Schlachtflotte kaum wesentlichen
Schaden zuzufügen vermag. Daß Pearl Harbor durch die Washingtoner
Berichterstattung irregeführt wurde, steht fest. Aber die Kommandostellen in
Pearl Harbor hätten sich tüchtiger erweisen sollen.
Daß Präsident Roosevelt, als er seine riskante Strategie entwarf, eine
bessere Leistung von Pearl Harbor erwartet hatte und daß er nichts von
den Schwierigkeiten, die die Wirksamkeit des Nachrichtendienstes in Hawaii beeinträchtigten,
wußte, ist mehr als wahrscheinlich: Roosevelt wollte die Japaner zum ersten Schuß veranlassen, aber er wollte die
erste Schlacht auch gewinnen, nicht verlieren.
Einigen Revisionisten zufolge war Roosevelt zur Zeit
des Münchner Abkommens gegen den Krieg, weil ein Krieg, der damals ausgebrochen
wäre, nicht lange genug gedauert und daher einen amerikanischen Kriegseintritt
verhindert hätte. Derartige Anschuldigungen sind einfach unsinnig (und
gehässig), nicht nur weil sie unbelegbar und unlogisch sind, sondern weil sie
eine Kriegslüsternheit Roosevelts, eine Liebe zum Krieg als Krieg
voraussetzen, die einfach nicht vorhanden war. Die Belege zeigen im Gegenteil
eher an, daß die amerikanische Strategie durch den naiven Pazifismus Roosevelts
anfänglich behindert wurde. Die Grundthese des Revisionismus, derzufolge
die amerikanische Strategie darauf hätte abzielen sollen, Amerika aus dem
Krieg herauszuhalten, ist erheblich weniger primitiv und verdient eine ernste
Erörterung. Ich kann mir sehr wohl eine Strategie vorstellen, die es Amerika
als tertius gaudens ermöglicht hätte, den Frieden zu diktieren und die balance
of power erneut zu sichern - vorausgesetzt, die Vereinigten Staaten hätten
stark aufgerüstet, während sich die Kriegführenden wechselseitig schwächten. Aber
der Erfolg dieser Strategie hing von der Richtigkeit der Voraussetzung ab, daß
die Nazis und Japan nicht imstande sein
würden, entscheidende Siege zu erringen und daß selbst übermächtige Sieger
keine Bedrohung für die Vereinigten Staaten dargestellt hätten. Diese strategische
Konzeption ist von einer Deutung des Nationalsozialismus und einer Einschätzung
der materiellen Machtfaktoren abgeleitet, die ich nicht teilen kann. Ich halte
daher die von den Revisionisten vorgeschlagene Alternativ-Strategie für
undurchführbar, selbst wenn es zutreffen sollte, daß die zunehmende Radikalisierung
des Nationalsozialismus nicht naturnotwendig vorgegeben war. Die Strategie Roosevelts
war daher, meines Erachtens, auf die Realität zugeschnitten, wobei
lediglich hinzuzufügen ist, daß die spätere Strategie, die der Sowjetunion zu
ihrer gegenwärtigen Hegemonialstellung verhalf, auf falschen Voraussetzungen
und auf Zukunftsillusionen beruhte. Die geistige Spannkraft Roosevelts ließ etwa seit 1943, sicherlich aber seit 1944 zusehends nach. Diese
Betrachtung sei mit der Bemerkung abgeschlossen, daß die verantwortlichen Offiziere
in Pearl Harbor und Washington nie vor ein regelrechtes Kriegsgericht gestellt
wurden und daß die japanischen Führer, welche den Angriff auf Pearl Harbor
planten und durchführten, einer Klage wegen Verbrechens gegen den Frieden
entgingen. Falls es zu Prozessen gekommen wäre, die nach juridischen
Grundsätzen hätten geführt werden müssen, wäre es wahrscheinlich unmöglich
gewesen, das Geheimnis von Pearl Harbor zu bewahren. Es ist offenkundig, daß selbst nach dem Tode Roosevelts die
amerikanische Regierung dieses Risiko nicht auf sich nehmen wollte.
Pearl Harbor und kommunistische Einflüsse
Die strategische Bedeutung des japanischen Angriffes auf Pearl
Harbor war eine doppelte: die Vereinigten Staaten wurden in den Krieg gezogen,
und Japan griff anstatt der Sowjetunion die Vereinigten Staaten, Großbritannien
und Holland an, was das Überleben des Stalinschen Regimes ermöglichte. Wenn
Japan im Herbst 1941 Sibirien bedroht oder
angegriffen hätte, wäre das sowjetische Oberkommando außerstande
gewesen, Truppen aus dem Osten nach dem Westen zu verlegen und den deutschen
Vormarsch vor Moskau zum Stillstand zu bringen. Welche Folgen der Fall von
Moskau gehabt hätte, braucht man nicht weiter auszumalen. Japan wie auch
Deutschland wären am besten gefahren, wenn sie die stärkste feindliche
Kontinentalmacht gemeinsam vernichtet und den Entscheidungskampf gegen die Seemächte erst später voll aufgenommen hätten. Der
Angriff auf Pearl Harbor lag also im kommunistischen Interesse, indem er einerseits die Sowjetunion von der östlichen
Angriffsgefahr befreite, andererseits den Sowjets in ihrem Lebenskampf einen
mächtigen und hilfsbereiten Verbündeten zuführte. Die japanische
Entscheidung war zweifellos der folgenschwerste Fehler, der im Laufe des Zweiten Weltkrieges gemacht wurde. Wie
konnte eine so fehlerhafte Entscheidung zustande kommen? Am 13. April 1941
schloß der japanische Außenminister Matsuoka, nachdem er vorher Berlin
besucht hatte, mit der Sowjetunion einen Neutralitätspakt ab. Zur damaligen
Zeit stand der Beschluß Hitlers, die Sowjetunion anzugreifen, bereits
fest, offiziell arbeitete jedoch das Dritte Reich mit der Sowjetunion noch eng
zusammen. Den Japanern wurde über die Angriffsabsichten gegen die UdSSR nichts
mitgeteilt. Berlin erhob auch keine
Einwände, als die japanische Absicht, diesen Vertrag abzuschließen,
bekannt wurde.
Selbst nachdem der Angriff auf die Sowjetunion bereits
erfolgt war, versuchten die nationalsozialistischen Strategen, insbesondere Hitler
und Ribbentrop, Japan zum Angriff gegen Großbritannien zu bewegen.
Das Ziel war offenbar, England in eine Diversion zu zwingen und somit
Deutschlands Aufgaben in Westeuropa für die Dauer des Kampfes in Osteuropa zu
erleichtern. Wahrscheinlich glaubte Hitler auch, er werde mit der
Sowjetunion schon fertig werden und brauche sich daher wegen Sibirien keine
Schwierigkeiten mit Japan aufzuhalsen. Im Gegensatz hierzu wollte die
Wehrmacht Japan in den Krieg gegen die Sowjetunion verwickeln, fand aber für
diese Absicht keine Unterstützung. Die Fehlrechnung Hitlers war ein
bedeutsamer Faktor, da gegebenenfalls eine realistische deutsche Strategie
Japan von dem verhängnisvollen Schritt, Pearl Harbor anzugreifen, im
gemeinsamen Interesse hätte zurückhalten können.
Der japanische Plan »gegen Süden« vorzustoßen, wurde am 2.
Juli 1941 in Tokio in Gegenwart des Kaisers gefaßt und führte zur sofortigen
Einziehung von 1,3 Millionen Rekruten. Nachrichten über diese Entscheidung
waren Moskau spätestens Anfang September[245], wahrscheinlich aber schon Anfang August zugegangen.
Richard Sorge, der führende sowjetische Agent in Tokio, wußte bereits am
1. August 1941, daß der japanische Generalstab nicht beabsichtigte, gegen die
Sowjetunion vorzugehen; dies wurde ihm am 4. August bestätigt und sicherlich
sofort weitergegeben. Am 22. August meldete der deutsche Marineattache nach Berlin, daß Japan Rußland nicht
angreifen werde[246]. Wahrscheinlich konnte die sowjetische
Funküberwachung, die auch sonst den japanischen Aufmarsch mit einiger
Zuverlässigkeit beobachtete, diese bestätigende Mitteilung auffangen.
Der japanische
Generalstab hatte schwerwiegende Gründe, eine kriegerische Auseinandersetzung
mit der Sowjetunion zu scheuen. Mit im ganzen 51 Divisionen, von denen etwa die
Hälfte in China gebunden war, und mit einer nur unzulänglich entwickelten Panzerwaffe
war Japan lediglich als eine schwache Landmacht
zu bezeichnen. Die Schlachten, die 1938/39 längs der mandschurisch-sowjetischen
Grenze stattgefunden hatten, zeigten, daß die japanischen Streitkräfte
bewaffnungstechnisch und taktisch gegen die Rote Armee kein leichtes Spiel
haben würden. Insbesondere mußte die Möglichkeit eines Winterfeldzuges in
Zentralasien mit Bedenken betrachtet werden. Die Japaner glaubten, eine klare
zahlenmäßige Übermacht zu benötigen. Wenn aber Japan die Sowjetunion angegriffen hätte, hätte es trotzdem Truppen zur
Sicherung gegen einen etwaigen Angriff seitens der Vereinigten Staaten
in Reserve halten müssen. Außerdem mußten Truppen eingesetzt werden, um
Ölquellen - etwa auf Sachalin und in Niederländisch-Ostindien - zu sichern. Es
ist also fraglich, ob Japan in der Lage war, eine übermächtige Streitkraft
gegen Sibirien aufzustellen. Es ist eher anzunehmen,
daß ein Krieg mit der Sowjetunion die mühsam gehaltenen japanischen Stellungen
in China erheblich geschwächt hätte, so daß gegebenenfalls die Eroberungen
früherer Feldzüge hätten aufgegeben werden müssen, ohne daß dabei die
Möglichkeit geschaffen worden wäre, tief nach Sibirien einzudringen. Solange
hingegen Deutschland die sowjetischen Kräfte im Westen band, war die Gefahr
eines erfolgreichen sowjetischen Angriffes auf japanischen Besitz als gering
zu betrachten.
Ein weiterer Grund vom Angriff auf die Sowjetunion
abzusehen, lag in der Tatsache, daß die von Japan am dringlichsten benötigten
Rohstoffe, insbesondere Öl, am leichtesten und billigsten aus Südostasien,
nicht aber aus Sibirien zu beschaffen waren. Selbst wenn die Sowjetunion
besiegt worden wäre, hätte Japan dennoch Unternehmungen »im Süden« durchführen
müssen und wäre somit auf jeden Fall in Gegensatz zu den Vereinigten Staaten
und Großbritannien geraten. Wenn aber die wichtigsten Kriegsziele Japans
sowieso im Süden lagen, und ein Konflikt mit den Vereinigten Staaten und
Großbritannien als mehr oder weniger unvermeidlich anzusehen war, warum sollte
dann Krieg mit der Sowjetunion geführt werden, wofür es keine dringende
Notwendigkeit gab? Dieser Krieg mußte Japan schwächen und mochte den
Vereinigten Staaten zugute kommen. Dabei war nicht einmal voraussehbar, ob die
USA vielleicht nicht doch der Sowjetunion zu Hilfe kommen würden.
Für den Krieg in Südostasien und im Inselgebiet des
westlichen Pazifik besaß Japan ausreichend Truppen. Die japanische Flotte war
imstande, durch einen vorbeugenden Schlag
gegen die amerikanische Flotte, dem japanischen Heer zeitweilig fast
unbeschränkte Bewegungsfreiheit in Ostasien zu verschaffen. Da Deutschland die
Sowjetunion und England militärisch neutralisierte, die USA große Anstrengungen
unternahmen, um einen deutschen Sieg in Europa durch Hilfeleistungen zu
verhindern, und daher nicht viele amerikanische Kräfte für andere Kriegsschauplätze
zur Verfügung standen, schien für Japan eine ausgezeichnete Gelegenheit gegeben, sich seine Eroberungsziele im
ostasiatischen Raum zu sichern.
Diese Überlegungen waren einleuchtend, aber nicht unbedingt
überzeugender als die gegenteilige These, derzufolge eine entscheidende
Niederlage der Sowjetunion im Interesse Japans lag. Durch einen Angriff gegen
Sibirien, der durchaus nicht ins Uferlose zu gehen brauchte, hätte Japan diese
Niederlage herbeiführen können. Sollte die Sowjetunion dank des japanischen
Angriffs »gegen Süden« den Krieg gewinnen und Japan durch einen Kampf mit den
USA geschwächt sein, so war ein sowjetischer Angriff auf die Mandschurei vorauszusehen
und die japanische Stellung in China würde letzten Endes unhaltbar werden. Ohne
eine entscheidende Schwächung der Sowjetunion war Japan außerstande, seine
Hegemonie im Fernen Osten auf die Dauer aufrechtzuerhalten. Die Sowjetunion
stellte daher für Japan eindeutig eine größere Gefahr dar als die USA. Darüber
hinaus war der Krieg mit den Vereinigten Staaten vermeidbar oder wenigstens
verschiebbar. So wäre es durch eine geschickte Außenpolitik und das Annehmen
einiger amerikanischer Forderungen durchaus möglich gewesen, die Opposition in
USA gegen den amerikanischen Kriegseintritt zu stärken und durch Kompromisse
über Indochina das Öl-Embargo zu mildern oder aufzuheben. Jedenfalls war der
Haupteinwand gegen die »südliche« Strategie, daß Japan den USA noch weniger gewachsen
war als der UdSSR; daß der Ausgang der
Seeschlachten gegen die amerikanische Marine als höchst unsicher angesehen werden
mußte; daß selbst im Falle militärischer Siege die Macht Amerikas nicht zu
brechen war und daß, sobald Japan sich nicht allzu aggressiv gebärdete, die USA
Japans Hegemonialstellung im Fernen Osten nicht wesentlich bedrohen würden.
Wie dem auch sei: sowohl die nördliche wie auch die südliche
Strategie konnte mit guten Gründen vertreten werden. Es ist daher nicht
verwunderlich, wenn sich die japanischen Staatsmänner und Strategen lange nicht
über den einzuschlagenden Kurs einigen
konnten und selbst nach der getroffenen Entscheidung wiederholt
schwankend wurden. In ähnlichen Lagen sind Regierungen meistens geneigt,
Entscheidungen zu vertagen und Entwicklungen abzuwarten. Im Falle Japans wäre es 1941 sicherlich nicht falsch
gewesen, sich zunächst auf eine weitgehend friedliche Lösung festzulegen. Es
wurde jedoch eine erstaunlich tollkühne Entscheidung getroffen, die den
Rahmen der südlichen Strategie weit sprengte und trotz ihrer taktischen
Genialität, die schlechteste strategische Lösung darstellte, auf die man hätte
verfallen können.
Die Entscheidung war zum Teil durch die wirtschaftliche
Zwangslage erklärt, in der sich Japan seit Verhängung des Embargos befand.
Trotz der Ölknappheit, welche die japanische Handlungsfreiheit stark einengte,
mußte Japan jedoch weder im Dezember 1941 angreifen, noch eine Strategie
wählen, die den stärksten amerikanischen Gegenangriff unvermeidlich machte.
Aber sowohl in der Armee als auch in der Marine drängten einflußreiche Offiziere
zum Angriff gegen die USA; und die militärische Logik schien zu erfordern, daß
die amerikanische Flotte durch einen
ersten Schlag lahmgelegt werden mußte. Diese Vorstellungen wurden
ausschlaggebend, nachdem am 15. Oktober 1941 General Hideki Tojo den dem
Frieden und der Verständigung mit den USA zugeneigten Fürsten Fumimaro
Konoye als Premierminister stürzte und ablöste.[247]
Ist die Entscheidung, Pearl Harbor anzugreifen, auf äußere,
dem japanischen Imperialismus feindlich gesinnte Einflüsse zurückzuführen?
Historisch steht fest, daß Hotsumi Ozaki, ein Konoye
nahestehender japanischer Kommunist, der sich als Nationalist gebärdete,
und der als die wichtigste Quelle des
Sorgeschen Spionagenetzes angesehen werden muß, die Entscheidung der japanischen
Regierung erheblich beeinflußte. Ozakis Absicht war, die Sowjetunion zu
retten und Japan der kommunistischen Revolution zuzuführen[248].
Die Argumente, die Ozaki im Kreis der Berater des Premiers vorbrachte,
besagten u. a.: die Festigkeit der kommunistischen
Gesellschaftsordnung darf trotz etwaiger militärischer Niederlagen der
Sowjetunion nicht unterschätzt werden; man
soll auch keineswegs den Widerstandsgeist der russischen Bevölkerung falsch
bewerten; selbst wenn Japan die östlichen Teile Sibiriens zu besetzen
vermöchte, so könnte Sibirien niemals von Rußland wirtschaftlich
unabhängig werden; da aber Sibirien nicht viele Rohstoffe besäße, Japan
hingegen in Südostasien Öl und Gummi bekommen würde, sei der Angriff gegen
Süden zweckmäßig. Ozakis Hauptargument war, daß, falls Deutschland die
Sowjetunion besiegen werde, Japan imstande sein müßte, Sibirien auf
diplomatischem Wege zu erhalten, ein Krieg gegen die Sowjetunion sei daher
überflüssig.
Ozakis Argumente waren zum Teil fadenscheinig, sie hinterließen
aber in der Umgebung des Fürsten Konoye, nicht zuletzt wegen Ozakis großer
Sachkenntnis, erheblichen Eindruck. Auf welche Weise diese oder ähnliche
Argumente die grundsätzliche Entscheidung,
nach »Süden« zu gehen, bestimmten, läßt sich nicht mehr genau belegen.
Auch wissen wir zu wenig über die Einflüsse, die innerhalb des Heeres und der Flotte am Werke waren; wir
wissen jedoch, daß besonders im Heer eine Art nationalistischer
Sozialismus oder Nationalbolschewismus weite Verbreitung gefunden hatte.
Wenn man also die vorliegenden Daten deutet, so läßt sich
sagen, daß der Einfluß Ozakis und anderer kommunistischer Elemente auf
den Beschluß, die Sowjetunion nicht anzugreifen, groß und vielleicht
sogar ausschlaggebend war. Rückschauend hat Fürst Konoye in seinen
hinterlassenen Memoiren jedenfalls eine höchst wirksame kommunistische Geheimtätigkeit
zu entdecken geglaubt, und seiner
Beurteilung muß man gehörige Aufmerksamkeit schenken, da er ja am besten
wußte, ob und inwieweit er Ozaki Vertrauen geschenkt hatte. Ozaki wäre
allerdings weniger erfolgreich gewesen, wenn die japanischen Militärs nicht auf
Krieg gedrängt hätten und wenn Japan der Sowjetunion mit wirksameren militärischen
Einsatzkräften hätte entgegentreten können.
Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, anzunehmen,
kommunistische Elemente hätten den Plan der japanischen Marine, Pearl Harbor
anzugreifen, angeregt oder beeinflußt.
Dieser Plan war fast ausschließlich das Werk des Admirals Isoroku
Yamamoto. Die Leistung des kommunistischen Apparates bestand in der
Mitwirkung bei der Verhinderung eines japanischen Angriffs auf die Sowjetunion.
Von China und durch mit der Sowjetunion sympathisierende
Elemente und Gruppen, die in Washington tätig waren, wurde auf die
Roosevelt-Regierung stärkster Einfluß zur Verhinderung einer Kompromißlösung
mit Japan und zur Aufhebung des Embargos ausgeübt. Aber Roosevelt wäre
wahrscheinlich, selbst wenn er Krieg vermeiden wollte, keinesfalls willens
gewesen, Japan nachzugeben. Der pro-sowjetische Druck in Washington führte
jedoch zu erhöhter Unnachgiebigkeit.
Die kommunistische Vergangenheit Sorges, ohne dessen
Hilfe und Leistung Ozaki seine Provokation nicht zustande gebracht
hätte, war den einschlägigen Stellen in Berlin wohl bekannt[249]. Sorge
sandte Berichte an Wilhelm von Ritgen, Herausgeber der NS-Partei-Korrespondenz.
Diese Berichte wurden zum Verständnis der fernöstlichen Lage als unersetzlich
angesehen. Als 1940 Parteistellen wegen Sorges politischer
Vergangenheit Schwierigkeiten schufen, bat Ritgen Walter Schellenberg vom
Reichssicherheitshauptamt, den Fall Sorge zu untersuchen. Ritgen bezweckte
mit diesem Gesuch, Sorges weitere Mitarbeit sicherzustellen. Die
polizeilichen Unterlagen erwiesen angeblich nicht, daß Sorge früher der KPD
angehört hätte oder ein sowjetischer Agent sei. Dies ist angesichts der
Vergangenheit Sorges eher verblüffend, wenn auch nicht unbedingt
ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger entsteht der Verdacht, daß das Dossier Sorges
»gereinigt« worden war oder daß Schellenberg die Unterlagen auf
seine Weise deutete. Da jedoch die Verdachtsmomente recht stark schienen,
vereinbarten Schellenberg und Ritgen,
Sorges Tätigkeit zu überwachen und seine Nachrichten nur zur
Übermittlung an Ritgen zuzulassen. Sorge wurde auch aufgefordert,
Nachrichten über die Sowjetunion und China zu beschaffen. Diese Lösung wurde
von Heydrich gebilligt, der darüber hinaus anordnete, die Berichte müßten genau geprüft werden, da Sorge
erwartungsmäßig im entscheidenden Augenblick irreführende Nachrichten
lancieren werde. Anders ausgedrückt; die Führer des SS-Nachrichtendienstes
wußten ungefähr, mit wem sie es zu tun hatten, wollten Sorge aber als
Doppelagenten verwenden. Bald vergaß man in Berlin die vorgeschriebenen
Vorsichtsmaßregeln. Sorge war arg unterschätzt worden. Mitte Oktober
1941, nur wenige Stunden oder Tage vor seiner Verhaftung, schickte Sorge einen Bericht nach Moskau, in dem
er mitteilte, die japanische Regierung habe alle Hoffnungen aufgegeben,
sich mit den Vereinigten Staaten zu einigen; Tokio habe beschlossen, im
Dezember oder Anfang Januar die Vereinigten Staaten und Großbritannien
anzugreifen. Obwohl Moskau vor dem 22.
Juni 1941 von London und Washington wegen eines bevorstehenden Nazi-Angriffs
gegen die Sowjetunion gewarnt worden war, vermied es Moskau, den
Freundschaftsdienst zu erwidern und unterließ es, die Nachricht von den Absichten
Tokios weiterzuleiten[250].
Der japanische Plan kam den kommunistischen Strategen gerade gelegen.
Man kann die Bedeutung dieser erstaunlich vielfältigen
kommunistischen Einflüsse auf die Tragödie von Pearl Harbor verschiedentlich
beurteilen. Für unsere Zwecke ist es
lediglich wichtig festzustellen, daß solche Einflüsse nachweislich bestanden
haben. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß die kommunistische Provokationsarbeit
wirkungslos geblieben ist.
Die Sicherheit aller Völker verlangt, daß man die Methoden, durch die Kriege herbeigeführt werden und auch die Zwangslagen, in denen man zum Kriege schreiten muß, besser verstehen lernt. Indem man über die Schuld von Regierungskörperschaften und sogar ganzer Völker spricht und die Anklage auf die Auslösung der eigentlichen Kriegshandlungen zuspitzt, versperrt man sich die Einsicht in die wesentlichen Zusammenhänge. Auch die Vorbereitungen zur Kriegsentscheidung gehören zur Strategie und Taktik: und die Kunst der Kriegsverursachung muß vom »Urheber«, der »schuldlos« bleiben will, gelernt werden, genauso wie der Historiker lernen muß, diese geheime Kunst zu beurteilen. Der Ursprung eines Krieges läßt sich eben nicht feststellen, wenn man die den Kriegshandlungen vorangegangenen Provokationen übersieht und deren Realität ableugnet. Aber dies bleibt bestehen: die Provokation kann nur dann zum Krieg führen, wenn der »Auslöser« des Krieges vom Willen zum Krieg beseelt ist und die Provokation mit einer günstigen Gelegenheit zum Angriff verwechselt. Sowohl 1939 wie 1941 warb der Angreifer um den Beistand des Provokateurs und damit um die Provokation selbst.
»Der Menschen Untat
lebet fort in Erz,
Der Menschen Tugend schreiben wir in Wasser.«[251]
[179] Bismarck im Reichstag, 6. Februar 1888, Bebel im Reichstag, 9. November 1911 (beide zitiert nach G. W. F. Hallgarten, Imperialismus vor 1914, Bd. 2, 2. Auflage. München 1963, S. 493); F. Stampfer, Erfahrungen und Bekenntnisse, a.a.O., S. 256.
[180]
Eine strategische Lagebeurteilung, die am 11. September 1941 von den beiden Stabschefs
General Marshall und Admiral Stark unterschrieben wurde, enthält
diesen Passus: »It is the opinion of the Joint Board that Germany and her
European satellites cannot be defeated by the European powers now fighting
against her. Therefore, if our European enemies are to be defeated, it will be
necessary for the United Staates to enter the war.« (Zitiert nach Robert E.
Sherwood, Roosevelt and Hopkins, New York 1950, Bd. 1, S. 497.)
[181] R. E. Sherwood, Roosevelt and Hopkins, a.a.O., S. 518 f.
[182] Ein ähnliches Problem bestand 1914 für Bethmann-Hollweg, der eine Kriegserklärung gegen Rußland brauchte, um die Sozialdemokraten zur vollen Unterstützung des Krieges zu bewegen. Bülows Erzählung, wie Bethmann-Hollweg den Völkerrechtler des Außenamtes im Zimmer hatte, um der Kriegserklärung die beste rechtliche Form zu geben und die Erläuterung des Kanzlers über die strategische, innenpolitische Bedeutung der Kriegserklärung, wurde als Lüge abgetan. Bülow erfuhr den Vorfall von Albert Ballin, der ihn auch Theodor Wolff gegenüber bestätigte. (Th. Wolff, The Eve of 1914, a.a.O., S. 513). Die sozialdemokratische Erklärung, daß die Partei für die Kriegskredite stimmen würde, wurde von Hugo Haase, Führer des linken und stark pazifistisch orientierten Flügels, verlesen. Wenn die erste Kriegserklärung an Frankreich gerichtet gewesen wäre, so wäre der »Burgfrieden« nicht zustande gekommen.
[183] U.S. Congress, 79th Congress,
Second Session, Hearings before the Joint Comrmttee on the Investigation of the
Pearl Harbor Attack, Washington, D. C, 1946, Part 1, S. 266.
[184] U.S. Congress, Hearings before the Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part XI, S. 5433 und 5438. Dies war das gleiche Problem, das Bismarck 1870 mit der Emser Depesche, durch die er die französische Kriegserklärung provozierte, löste.
[185] U.S. Congress, Hearings before the
Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part
VII, S. 2935.
[186] Husband E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, Chicago 1955, S. 49.
[187] U.S. Congress, Hearings before the Joint
Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part III, S.
1310, Part XIV, S. 1328, Part XXVI, S. 265 und Part XXXIX, S. 85.
[188] R. E. Sherwood, Roosevelt and Hopkins, a.a.O., S. 514.
[189] Zitiert nach George Morgenstern,
»The Actual Road to Pearl Harbor«, in: Perpetual War for Perpetual Peace,
hrsg. von Harry Eimer Barnes, Caldwell, Idaho, 1953, S. 385 und 403.
[190] U.S. Congress, Hearings before the
Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part
V, S. 2382 f.
[191] John Deane Potter, Yamamoto, New York 1965, 5. Kap.
[192] Vgl. das sorgfältig die Tätigkeit der amerikanischen Funküberwachung nachzeichnende Buch von Ladislas Farago, The Broken Seal, the Story of »Operation Magic« and the Pearl Harbor Disaster, New York 1967, S. 204 und 211 f.
[193] Chicago Tribune, Special Supplement
I B, 7. Dezember 1966, S. 11.
[194] R. E. Sherwood, Roosevelt and Hopkins, a.a.O., S. 425. Vgl. L. Farago, The
Broken Seal, a.a.O., S. 249 und 417.
[195] Winston S. Churchill, The Grand Alliance, Boston 1950, S. 440 und 487-508.
[196] R. E. Sherwood, Roosevelt and Hopkins, a.a.O., S. 431.
[197] U.S. Congress, Hearings before the Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part XII, S. 17. Siehe auch Part XIV, S. 1252-1299.
[198] H. Montgomery Hyde, Room 3603, New York 1964, S. 238 f. Stephenson hatte einen Vertrauensmann in der japanischen Botschaft in Washington, der ihn über die japanischen Pläne unterrichtete. Stephenson gab diese Nachrichten an Roosevelt weiter. Roosevelts Kenntnis der japanischen Absichten war daher nicht nur auf die Funküberwachung gestützt. Admiral Yamomoto hatte übrigens den Angriffstag provisorisch bereits am 7. November festgelegt.
[199] Die gleichen Kritiker werfen ihm dann vor, Pearl Harbor nicht wirksam genug verteidigt zu haben.
[200] Der Hafen wurde geometrisch in Sektoren zerlegt und eine Art Koordinatensystem geschaffen, um die Schiffspositionen leicht beschreiben zu können. Unterlagen dieser Art sind für Bombenangriffe notwendig und dienen kaum anderen Zwecken. Vom 18. November bis zum 6. Dezember wurden insgesamt 24 Berichte über die in Pearl Harbor versammelten Kriegsschiffe im Konsularkode vom japanischen Konsulat in Honolulu nach Tokio telegraphiert. In den ersten sechs Dezembertagen wurden 10 Berichte eingesandt (L. Farago, The Broken Seal, a.a.O., S. 270 ff.). Es handelte sich also um eine ausgedehnte Unternehmung, deren Bedeutung darin bestand, daß sie die japanischen Absichten gegen Pearl Harbor eindeutig kundgab. Man hat diese Serie, von der man häufig nur den ursprünglichen Erlaß aus Tokio erwähnt, als Routine-Berichterstattung abtun wollen, aber dies ist einfach eine Vertuschung des Tatbestandes. Es handelte sich eben eindeutig um 24 Warnungen vor einer Pearl Harbor drohenden Gefahr. Der Erlaß und 4 Berichte von Honolulu über die pazifische Flotte wurden rechtzeitig entschlüsselt (L. Farago, The Broken Seal, a.a.O., S. 277) und hätten die Dringlichkeit der raschen Entschlüsselung der gesamten Serie offenkundig machen sollen. Aber selbst die vorhandenen Entschlüsselungen hätten dringlichst warnen müssen.
[201] Die Japaner unterschätzten das amerikanische Kriegspotential, aber sie glaubten, sie könnten sich nach der Zerstörung der US-Flotte eine so starke Stellung in Asien ausbauen, daß die Amerikaner die Kosten einer transpazifischen Gegenoffensive scheuen und sich mit den japanischen Eroberungen abfinden würden.
[202] Im April 1941 wurden 1 Träger, 3 Schlachtschiffe, 4 Kreuzer und 18 Zerstörer - etwa ein Viertel der pazifischen Schlachtflotte - vom Pazifik in den Atlantik abkommandiert (H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 21).
[203] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 13.
[204] Den
Amerikanern war bekannt, welche Bedeutung die Japaner den Flugzeugträgern
beimaßen, und sie wußten seit der Schlacht von Taranto über die Möglichkeiten
eines Marine-Flugzeugangriffs gegen eine im Hafen liegende Flotte. Aber Pearl
Harbor hat nur eine Wassertiefe von etwa 10 Metern gegen 30 Meter in Taranto (H.
E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 19 f). Da eine Tiefe von 25
Metern für Torpedoangriffe für nötig gehalten wurde, unterließ man es, den
Kriegshafen mit Netzen zu sichern. Die Engländer hatten mitgeteilt, daß 1940
Lufttorpedos in einer Tiefe von 14 Metern verwendet worden waren, aber das
wurde Honolulu nicht gesagt. Die japanische Angriffstaktik war übrigens von
US-Fliegeroffizieren bereits am 31. März 1941 genau vorausgesagt worden (/. D. Potter. Yamamoto, 5. Kapitel).
[205] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 18.
[206] Die Daten sind widerspruchsvoll. Roherta Wohlstetter, die bemüht ist, die Provokations-These, ohne allzu direkt auf sie einzugehen, zu widerlegen, behauptet, es gab 1941 nur 4 Maschinen (Pearl Harbor, Warning and Decision, Stanford 1962, S. 173). Das Heer und die Marine hatten je eine in Washington, eine Maschine stand auf den Philippinen, die vierte war für Hawaii bestimmt gewesen, wurde aber den Engländern in Austausch für deutsche Dechiffrierungsmaschinen gegeben. Eine fünfte Maschine war im Bau und für Hawaii bestimmt. Admiral Robert A. Theobald (The Final Secret of Pearl Harbor, New Rochelle, N. Y., Conservative Book Club Omnibus Volume 5, o. J., S. 36 f.) erklärte hingegen, daß in Washington je 2 Maschinen dem Heer und der Marine zur Verfügung standen und daß diese 4 Maschinen nötig waren, um schnelle Arbeit zu ermöglichen. Demgemäß gab es 6 und nicht 4 Maschinen, und eine siebente war im Bau. Da aber die für Pearl Harbor bestimmte Maschine bereits im Sommer den Engländern gegeben wurde (H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 82) und da der japanische Kode bereits im August 1940 gebrochen worden war, so dauerte der Bau gerade der letzten Maschine erstaunlich lang: vom August 1940 bis zum Sommer 1941, also in etwa zwölf Monaten, wurden sechs Maschinen gebaut; die Bauzeit betrug daher zwei Monate, vielleicht etwas weniger. Es war somit genügend Zeit, die Pearl Harbor weggenommene Maschine zu ersetzen.
[207] Chicago Tribune, Special
Supplement, a.a.O., S.5 und 10-12.
[208] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 80 f.
[209] »While theater intelligence
agencies may have been better judges than Washington of the Far Eastern
signals, it was simply not practicable to send to the theaters all the
Information available in Washington« (R. Wohlstetter, Pearl Harbor,
Warning and Decision, a.a.O., S. 278).
[210] R. Wohlstetter, Pearl
Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 212.
[211] H. E. Kimmel, Admiral
Kimmel's Story, a.a.O., S. 86.
[212] R. Wohlstetter, Pearl
Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 110.
[213] Bismarck unterließ es, die Emser Depesche der preußischen Gesandtschaft in Paris zu übermitteln. Alle anderen Gesandtschaften wurden verständigt.
[214] Wohlstetter schreibt: »By that cryptic Statement he evidently meant war between Japan and the United States because the United States was going to support Great Britain, and not because Japan was going to attack the United States.« (R. Wohlstetter, Pearl Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 273.) Roosevelts Bemerkung war wohl kaum »cryptic«. Wieso Frau Wohlstetter wissen kann, was Roosevelt »evidently« meinte, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber da er die bevorstehende Kriegserklärung Japans an die USA kommentierte, kann er sich kaum auf eine amerikanische Unterstützung Englands, also auf eine USA-Kriegserklärung an Japan, bezogen haben. Außerdem antwortete ihm Hopkins, es sei schade, die USA »could not strike the first blow and prevent any sort of surprise«. Roosevelt entgegnete: »We can't do that« — also die USA sollten den Überraschungsangriff nicht verhindern. »Evidently« kann es sich bei diesem Gespräch nur um einen japanischen Angriff gegen die USA gehandelt haben.
[215] U.S. Congress, Hearings before the
Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part
II, S. 570. Der Ausspruch Hulls ist zitiert von George N. Cracker, Roosevelt's
Road to Russia, Chicago 1959, S. 82.
[216] H. E. Kimmel, (Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 3) erklärt, daß die Nachricht von Knox an Kimmel nur von einer Persönlichkeit »in high authority« aufgehalten werden konnte. Kimmel schrieb, daß Knox ihn fragte, ob er seine Warnung nicht erhalten hatte? Der damalige Adjutant von Knox, der spätere Vice Admiral Frank E. Beatty, bestätigte, daß Knox am Vorabend von Pearl Harbor eine Warnbotschaft nach Pearl Harbor schickte. Er war Zeuge des Gesprächs zwischen Knox und Kimmel, welches den Nicht-Erhalt dieser Nachricht enthüllte.
[217] R. Wohlstetter, Pearl Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 91.
[218] Harry Elmer Barnes, »A historian investigates a tough question: where was the General?«,
Chicago Tribune, Special Supplement, a.a.O., S. 5 f. Ich bin Professor Barnes
für seinen Hinweis auf weitere und recht schlüssige Belege verpflichtet,
die bereits seit der Untersuchung aus den Jahren 1945-1946 durch den
Kongreßausschuß vorliegen (U. S. Congress, Hearings before the Joint Committee
on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part XIV, S.
1409-1411). General Sherman Miles, der amtierende Chef des
Heeresnachrichtendienstes (G-2), sandte am 15. Dezember 1941 General Marshall
ein (offenbar bestelltes) Memorandum, in dem er ausführte, er habe am 7.
Dezember General Marshall etwa um 11.25 Uhr in dessen Amtszimmer
angetroffen. (Marshall war also bereits angelangt.) Marshall las
hierauf die aufgefangene japanische Note mit lauter Stimme vor. Daraufhin fand
eine Diskussion über die Bedeutung der Note statt. Ferner wurden zu ergreifende
Maßnahmen besprochen. Marshall telefonierte mit Stark, was eine
neue Diskussion zur Folge hatte. Marshall schrieb erst dann seine
verspätete Warnung, sprach erneut mit Stark und machte ihn mit dem
Inhalt der Warnung vertraut. (Die Telefongespräche wurden andeutungsweise
geführt, woraus hervorgeht, daß Marshall und Stark die Lage und
auch die dechiffrierten Dokumente bereits miteinander besprochen hatten.) Als
zwei weitere Offiziere in Marshalls Zimmer eintraten, fand abermals eine
Besprechung statt, und es wurde wiederum beschlossen, die Warnung dringendst
abzusenden, wobei gegebenenfalls die Philippinen zuerst gewarnt werden
sollten. Die Warnungsdepesche wurde im Message Center von Oberst Bratton um
11.50 Uhr abgeliefert. Marshall wollte jedoch noch wissen, wann die
Depesche ankommen werde. Die Antwort, wie Miles angab, lautete: in 20
Minuten.
In einem Memorandum
for Record, das von Oberst W. B. Smith (dem späteren CIA-Chef) am 15.
Dezember 1941 verfaßt wurde, heißt es, daß die Depesche nach dem Abschreiben
genau um 12 Uhr mittags der Kodeabteilung des Message Center übergeben wurde.
Das Logbuch des Message Center gibt daher 12 Uhr als die Zeit der Entgegennahme
der Depesche an. (Diese »runde Zahl« ist besonders erstaunlich: General Marshall
war betont pünktlich - die Warnung wurde genau eine Stunde vor
Planzeit des ersten japanischen Schusses abgesandt!) General L. T. Gerow produzierte
am 15. Dezember 1941 ebenfalls ein Memorandum. (An diesem Tage ging es offenbar
darum, Alibis vorzubereiten.) Diesem Dokument zufolge erschien Gerow am
7. Dezember um 11.30 Uhr in Marshalls Zimmer. Marshall orientierte
Gerow über die japanische Note: dies war gänzlich überflüssig, da Gerow
die purple-intercepts zugänglich waren und er zweifellos die Note bereits
gründlich studiert hatte (L. Farago, The Broken Seal, a.a.O., S. 101). Marshall
bemerkte, die von Tokio angeordnete Zeit für die Aushändigung der Note wäre
bedeutungsvoll. (Miles gab an, er hätte Marshall erklärt, die
vorgeschriebene Ablieferungszeit werde wahrscheinlich mit einer militärischen
Angriffshandlung zusammenfallen.) Daraufhin las Marshall, wie Gerow berichtet,
nochmals seine Warnungsdepesche vor, die von allen Anwesenden gutgeheißen
wurde. Die Depesche wurde, Gerow zufolge, zum Message Center gebracht,
mit der Anweisung, sie auf schnellstem Wege abzusenden (»by the most
expeditious means«). Oberst Bratton lieferte die Depesche ab und teilte
einige Minuten später mit, die Nachricht werde binnen 30 Minuten bei den
Adressaten ankommen.
Gerow erwähnt
in seinem Memorandum die Telefongespräche mit Stark nicht, bestätigt
aber sonst die von Miles angegebene Chronologie. Demgemäß erschien Gerow
nach den Telefongesprächen zwischen Marshall und Stark.
Das laute,
pausenlose Vorlesen der japanischen Note nimmt etwa 16 Minuten in Anspruch.
(Diese Note hat, wie man in dem Werk des Kongreßausschusses, Bd. XII, S.
239-245, erkennen kann, einen Umfang von sieben engbedruckten Seiten.) Die über
Fernschreiber vermittelten Erstfassungen sind jedoch schwerer zu lesen als ein
sorgsam gedruckter Text. Außerdem muß man bei Dokumenten dieser Art bestimmte
Stellen mehrfach wiederholen, um sie zu verstehen. Man kann also ruhig die
Lesezeit auf 20 Minuten anberaumen. Da, gemäß dem Miles-Memorandum, die
Note angeblich erst kurz nach 11.25 Uhr von Bratton an Marshall übergeben
wurde, hätte das Vorlesen nicht vor 11.45 Uhr beendet gewesen sein können.
Die beiden Gespräche
mit Stark dauerten sicherlich 4 Minuten. Das Verfassen der
Warnungsdepesche erforderte, da selbst das einfache Kopieren dieser Worte 2
Minuten und 5 Sekunden benötigt, mindestens 3 Minuten. Marshall las
seine eigene Depesche zweimal laut vor, was, da wahrscheinlich Korrekturen
eingefügt wurden, wenigstens zwei Minuten brauchte. Im ganzen fanden, dem Miles-Memorandum
zufolge, sieben Gespräche statt, deren Dauer man an Hand der besprochenen
Themen auf 12 Minuten schätzen kann. Insgesamt dauerten demnach die nach dem
Vorlesen erfolgten Vorgänge wenigstens 21 Minuten und konnten daher erst um
12.06 Uhr beendet gewesen sein. Die Depesche wurde aber in handgeschriebener
Form bereits um 11.50 Uhr an das Message Center abgeliefert: sie muß daher etwa
um 11.48 Uhr absandtbereit gewesen sein. Da diese Schätzung für jeden
Einzelvorgang Minimalzeiten annimmt und die Dauer des Gesamtvorgangs auf
beinahe zwei Stunden berechnet wurde {Barnes, a.a.O., S. 9), was
durchaus realistisch ist, so liegen in den Zeugenaussagen notwendigerweise
falsche Zeitangaben vor.
Dies ergibt sich außerdem auch aus folgenden Widersprüchen: 1. Gemäß den Aussagen
des Obersten Bratton, die zum Teil von dem Miles-Memorandum
abweichen, trat Bratton in Marshalls Zimmer, als dieser bereits
die japanische Note laut vorlas; dies bedeutet, daß das Dokument schon vor
11.25 Uhr in Marshalls Händen gewesen sein muß. Angeblich soll Marshall
5 Minuten vor Bratton in das Zimmer eingetreten sein, also um 11.20
Uhr, was Bratton jedoch nicht so genau wissen konnte. Bratton wollte
Marshall vor allem den nachträglich, d. h. am Sonntagmorgen eingetroffenen
14. Teil der japanischen Note zur Kenntnis bringen. Dieser Teil enthielt die
Anweisung über den Ablieferungstermin. Selbst wenn Marshall die ersten
13 Teile noch nicht gelesen hatte, so war bereits bekannt, daß Krieg vor der
Tür stand. Der Ablieferungstermin der Note war demnach die wichtigste noch ausstehende
militärische Nachricht, die Marshall am Sonntagmorgen benötigte, um
zweckmäßige Vorkehrungen anzuordnen. Trotzdem konnte Bratton Marshall nicht
bewegen, diese militärisch bedeutsamste Nachricht zuerst zur Kenntnis zu nehmen.
2. Laut Gerow, der angab, um 11.30 Uhr gekommen zu sein, war bei seiner
Ankunft das Lesen der japanischen Note längst vorbei; auch laut Miles erschien
Gerow erst nach Marshalls zweitem Gespräch mit Stark und
erst nachdem die Warnungsdepesche bereits geschrieben war. Wenn das Vorlesen 20
Minuten beanspruchte, erforderten diese gesamten Vorgänge bis zum Fertigstellen
der Warnungsmeldung 32 Minuten. Falls Gerow tatsächlich um 11.30 Uhr
auftauchte, muß Marshall bereits vor 11 Uhr in seinem Zimmer gewesen
sein.
In einem Memorandum
vom 8. Juni 1942 des als völlig zuverlässig bekannten damaligen Obersten und
Sekretär des Generalstabes J. R. Deane heißt es, Marshall sei
etwa um 10 Uhr oder kurz danach in seinem Büro erschienen. Angesichts der
beschriebenen Tätigkeit Marshalls ist diese Aussage als äußerst
wahrscheinlich anzusehen. Deane war der diensthabende Offizier in Marshalls
Büro und hat seine Angaben Jahre später bestätigt. Er fügte seinem
Memorandum vom Juni 1942 das Logbuch des von ihm verwalteten Vorzimmers Marshalls
bei.
Die Belege, die dem
Untersuchungsausschuß vorlagen, sind somit mit den Legenden über Marshalls Sonntagmorgen
unvereinbar. Marshall brauchte mindestens 41 Minuten — und jedenfalls
weit mehr als 25 Minuten —, um die Warnungsnachricht zu besprechen und
niederzuschreiben.
Der offene Widerspruch zwischen Deane und Bratton wurde niemals aufgeklärt, aber Deane befand sich die ganze Zeit im Vorzimmer des Generals, das außerdem sein Dienstzimmer war, während Bratton seiner Aussage nach dort nur wenige Minuten wartete und aus und ein ging. Bratton änderte seine Aussage im Laufe der verschiedenen Untersuchungen in einem wesentlichen Punkt: ursprünglich hatte er ausgesagt, er habe die ersten 13 Teile der japanischen Note (d. h. den diplomatischen Text ohne die Zeitanordnung und genau jenen Teil, den Marshall laut vorlas) dem diensthabenden Offizier Marshalls bereits am Abend des 6. Dezember übergeben. (Vgl. R. A. Theobald, The Final Secret of Pearl Harbor, a.a.O., S. 108.) Dies entsprach der Vorschrift und fand daher wohl so statt. Die Änderung von Brattons Aussage erfolgte, nachdem dieser Offizier unter Druck gesetzt worden war. Deane schrieb übrigens auch, Marshall habe ihm etwa um 12 Uhr, also sofort nach Fertigstellung der Warnungsdepesche, mitgeteilt, er werde den Präsidenten um 15 Uhr sprechen. Marshall muß also in den kritischen kurzen Minuten, während er die japanische Note las und die Warnung verfaßte (außer, wie fast notwendig, mit dem Kriegsminister), auch noch mit dem Präsidenten telefoniert haben. Bevor Marshall zum Mittagessen nach Hause zurückkehrte, ließ er, so berichtet Deane, trotz des Sonntags verschiedene Offiziere und Sachbearbeiter zur Arbeit rufen: er sah also einem tatenreichen Nachmittag entgegen. Dies war genau das Verhalten eines Offiziers, der einen Angriff erwartete, aber bereits alle erforderlichen Maßnahmen getroffen hatte.
Kurz: das langsame
Vorlesen der japanischen Note und die Hast und Eile 5 Minuten vor 12 Uhr waren
Theater.
[219] E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 4. Dem bereits
zitierten Memorandum von General Gerow zufolge wurde General Marshall
mitgeteilt, die Depesche werde binnen 30 Minuten ankommen; gemäß Miles binnen
20 Minuten. Es stellte sich jedoch heraus, daß die Heeres-Funkstation von
Washington wegen einer Funkstörung nicht mit Hawaii in Verbindung treten
konnte. Hieraus entstand eine kurze Verzögerung, und die Depesche ging nach
Verschlüsselung erst um 12.17 Uhr ab. Sie kam nach 46 Minuten, um 7.33 Uhr
hawaiischer Uhrzeit, bei der RCA in Honolulu an. Dort wurde das Telegramm, dem
Smith-Memorandum zufolge, einem »orientalischen Boten« übergeben.
Inzwischen war der Angriff erfolgt, und es dauerte 4 Stunden und 12 Minuten,
bis das Telegramm an den Funkoffizier gelangte, und weitere 3 Stunden und 13
Minuten, bis es, viel zu spät, das Oberkommando erreichte.
Die Verantwortung für die Entscheidung, die Depesche auf zivilem Wege und nicht mehrfach über die Funkdienste der Streitkräfte und des FBI zu senden, lastet auf einem Obersten des Signal Corps, der jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Es ist nicht einmal klar, ob wirklich Befehl gegeben wurde, die Depesche dringlichst zu senden, und ob dieser Befehl von Bratton, der die Depesche dem Message Center überreichte, auch übermittelt und dann bei der Absendung vom Funkdienst auch befolgt wurde. Weiter ist nicht bekannt, ob tatsächlich eine Funkstörung zwischen dem Washingtoner Heeressender und Honolulu vorlag - dies ist ebenfalls eine unwahrscheinliche Geschichte. Solche Ausfälle sind jedoch möglich, und es gab daher sicherlich klare Vorschriften für derartige Vorkommnisse. Man kann sich allerdings darauf verlassen, daß die Vorschriften nur die Übergabe von »low priority messages« an zivile Telegraphenagenturen vorsahen und daß Erlasse von großer Dringlichkeit und insbesondere Warnungsbotschaften seitens des Stabschefs von einem militärischen Dienst zu befördern waren, abgesehen von Lagen, in denen keine andere Wahl blieb. In diesem Falle standen jedoch vier bessere, schnellere und sicherere Wege zur Verfügung.
[220] Über den Ursprung dieser Warnung, vgl. Potter, Yamamoto, a.a.O., Kap. 6.
[221] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 15. Diese Angriffsart war von der US-Marine bereits 1832 durch Manöver geprüft worden.
[222] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 16.
[223] C. C. Hiles, »The Kita message - forever a mystery?«, Chicago Tribune, Special Supplement, a.a.O., S. 7. Die Kita-Depesche wurde auch in Pearl Harbor aufgefangen, aber erst nach dem Angriff dechiffriert.
[224] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 104 f.
[225] Zwei Warnungen an die pazifische Flotte wurden von dem zuständigen Nachrichtenoffizier der Marine am 1. und 4. oder 5. Dezember konzipiert, durften aber nicht gesandt werden (H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 105).
[226] R. Wohlstetter, Pearl Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 277.
[227] H. E. Barnes, »A
historian investigates . , .«, a.a.O., S. 8 f.
[228] Siehe Abschnitt 8, unten.
[229] U.S. Congress, Hearings before the
Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part
XV, S. 1597.
[230] Am 27. Januar 1942 sprach Churchill
im Unterhaus über die »Wahrscheinlichkeit«, die seit der Atlantischen Konferenz
bestand, »that the United States, even if not herseif attacked, would come into
the war in the Far East.«
[231] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 39. Diese Tatsache wirft ein bezeichnendes Licht auf unsere obige Analyse. Da am 6. Dezember Krieg als »imminent« erkannt wurde, hätte gemäß dieses vorherbestimmten Verfahrens die Flotte mobil gemacht werden müssen. Die Flotte war am 27. November mobil zu machen, als Admiral Stark eine allgemein gehaltene Warnung nach Pearl Harbor sandte.
[232] Die Nachrichten »appeared to
indicate... by inference and deduction, that an attack in the Hawaiian area could
be expected soon« (U.S. Congress, Hearings before the Joint Committee on the
Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part XXXIX, S. 318).
[233] H. E. Kimmel, Admiral Kimmel's Story, a.a.O., S. 161.
[234] Marshall arbeitete wahrscheinlich für Roosevelt die Pläne aus: als Marineoffizier wäre dies Stark vielleicht schwerergefallen. Außerdem war Marshall viel tüchtiger.
[235]
Pearl Harbor hatte Radar, welches etwa 30—45 Minuten, vielleicht sogar eine
Stunde vor dem Angriff hätte warnen können. Die Radarkunst war erst in ihren
Anfängen. Die Geräte sollten ständig in Betrieb sein, wurden aber am 7.
Dezember um 7 Uhr morgens abgestellt. An einem Apparat wurde weiter geübt und
die japanischen Flugzeuge etwa 220 km nördlich von Oahu gesichtet. Meldung
wurde erstattet, aber der Radaroffizier nahm an, es handle sich um
amerikanische Trägerflugzeuge und gab die Meldung nicht weiter. Admiral Beatty
zufolge wurden die Radargeräte abgestellt, weil es Sonntag war und die
Truppe in der vergangenen Woche gute Arbeit geleistet hatte. (Diese »Erklärung«
ist für eine militärische Organisation äußerst seltsam.) All dies ist
weitgehend unaufgeklärt, in diesem Fall scheint aber tatsächlich Unachtsamkeit
vorgelegen zu haben. In Washington mußte man natürlich annehmen, daß die Radare
funktionieren und warnen würden. (H. E. Kimmel, Admiral Kimmel`s Story, a.a.O., S. 9, und R. Wohlstetter, Pearl
Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 11.)
[236] Wayne Thomis, »Pearl Harbor is attacked!«, Chicago Tribune, Special Supplement,
a.a.O., S. 2; L. Farago, The Broken Seal, a.a.O., S. 361 f.
[237] U.S. Congress Hearings before the
Joint Committee on the Investigation of the Pearl Harbor Attack, a.a.O., Part
XXXIX, S. 221 f.
[238] Dies ist ein Telefon, bei dem die Schallwellen moduliert werden, so daß das Gespräch nicht von unbefugter Seite abgehört werden kann.
[239] »Here on these domestic issues our
expectations were centered and our skills were grounded.« (R. Wohlstetter, Pearl
Harbor, Warning and Decision, a.a.O., S. 277.)
[240] H. E. Kimmel, Admiral
Kimmel`s Story, a.a.O., S. 63, 71.
[241] Das japanische Unternehmen gegen Pearl Harbor war in vieler Hinsicht ein militärisches Kunstwerk. Aber offenbar bemerkten die Japaner nicht, daß man ihnen nur alte Schiffe als Köder serviert hatte.
[242] Meistens wurde die Fiktion aufrechterhalten, die Befehlshaber von Pearl Harbor seien gar nidit angeklagt, sondern seien lediglich Zeugen.
[243] Bei einigen Untersuchungen gab es auch einen sog. »minority counsel«.
[244] Ein Joint Committee besteht aus Vertretern des Senats und des Repräsentantenhauses.
[245] Chalmers Johnson, An Instance of Treason, Ozaki Hotsumi and the Sorge Spy
Ring, Stanford, California 1964, S. 157 ff.
[246] L. Farago, The Broken Seal, a.a.O., S. 207.
[247] Admiral Yamamoto, der die Unternehmung gegen Pearl Harbor konzipierte, war einer der stärksten Gegner des japanischen Angriffes auf die USA.
[248] Chalmers Johnson, An Instance of Treason, Ozaki Hotsumi and the Sorge Spy
Ring, a.a.O., S. 162.
[249] Chalmers Johnson, An Instance of Treason, Ozaki Hotsumi and the Sorge Spy Ring, a.a.O., S. 171.
[250] Ralph de Toledano, Spies, Dupes & Diplomats, New York 1967, S. 113.
[251] Shakespeare, Heinrich VIII.